Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

Des Dertsqhe Reich und seine einjelnen Glieder. (Januar 18.) 35 
Vorwurf, daß sie dazu die Hand geboten hat, daß sie nicht einmal ver- 
sucht hat, überhaupt mit dem alten Block eine Verständigung zu finden. 
Bei den nächsten Reichstagswahlen wird das Zentrum die Entrüstung des 
Volkes spüren. Was den sogenannten Ferrer-Rummel betrifft, so ist die 
Sache mit diesem Schlagwort nicht abgetan. Wenn auch Ferrer Anarchist 
gewesen ist, so trägt doch das klerikale Regiment in Spanien die Schuld 
daran, daß solche verkommenen politischen Zustände dort herrschen, die den 
Ferrer-Rummel immer wieder von neuem hervorbringen. In Spanien ist 
die katholische Religion noch Staatsreligion, selbst das Ministerium kann 
sich nicht gegen die Geistlichkeit durchsetzen, der Protestantismus kann nicht 
einmal seinen Kultus ausüben. Das ist die Freiheit, die Sie (zum Z.) 
meinen, nach dem Rezept: „Wo ihr das Regiment habt, verlangen wir 
Toleranz in eurem Sinne, wo wir die Macht haben, unterdrücken wir euch 
nach unserem Sinne.“ (Lärm i. Z.) Das ist die Freiheit, die Herr Herold 
fordert. Die Folge der klerikalen Herrschaft in Spanien ist, daß dem Volke 
die religiöse Ehrlichkeit verloren gegangen ist, daß es aber um so bigotter 
an den Aeußerlichkeiten seines Kultus hängt. An diesem Regiment des 
Jesfuitismus ist Spanien zugrunde gegangen. (Unruhe i. Z.) Wir wünschen 
auch, daß dem Volke die Religion erhalten wird, daß der christliche Geist 
auch in der Schule gepflegt wird, aber wir wünschen nicht diesen fana- 
tischen Geist, sondern ein Evangelium der Liebe, nicht das, was Herr 
Herold predigt. Nur so können wir ein glückliches Preußen schaffen. 
Abg. Herold (3.): Jeder wird begreifen, daß wir für den Fürsten 
Bülow, der unsere Fraktion schwer beleidigt hat, keine Freundschaftsgefühle 
hegen konnten, aber wir brauchten ihn nicht mehr zu stürzen. Seit den 
Novembertagen von 1908 war es ein öffentliches Geheimnis, daß die Tage 
des Fürsten Bülow gezählt waren. Um den Bestand unserer Partei braucht 
man nicht besorgt zu sein; bei den Wahlen, die nach der Reichsfinanz- 
reform stattgefunden haben, haben wir bis jetzt recht gut abgeschnitten. 
Wenn wir in Dortmund und Essen keinen Erfolg gehabt haben, so liegt 
das eben an dem Kompromiß der Nationalliberalen und aller bürgerlichen 
Parteien mit den Sozialdemokraten, aber auch dort war die Gesamtzahl 
der Stimmen größer als in vergangenen Jahren. Seien Sie nur beruhigt, 
wir werden Ihnen schon noch zu schaffen machen. In der Polenfrage 
verteidigen wir nur das Recht der Muttersprache, aber das Großpolentum 
unterstützen wir nicht. Wir werden niemals ablassen, die Freiheit der 
Polen zu schützen, denn wir wollen die Gleichheit aller Staatsbürger. 
Wenn wir Katholiken in Preußen nur dieselbe Freiheit hätten wie die 
Evangelischen in Spanien! Ist es etwa Freiheit, wenn katholische Ordens- 
schwestern in ihrer Arbeit gehindert werden, ist es Herrschaft, wenn wir 
katholische Schulen fordern? Ist es Herrschaft, wenn wir Freiheit für 
Ordensniederlassungen wünschen, die staatstreu und königstreu sind? Wir 
wollen nicht die Herrschaft über die Schulen, wir erkennen an, daß die 
Schule eine Anstalt des Staates ist, aber wir verlangen, daß die Kirche 
mitwirkt, und daß der Religionsunterricht in konfessionellem Geiste erteilt 
wird. Kirche und Staat sollen in der Schule zusammenarbeiten, das ist 
christlicher Grundsatz. Ein Kulturkampf steht nicht bloß bevor, wir be- 
finden uns mitten im Kulturkampf. 
Abg. Dr. Friedberg (Nl.): Die katholische Religion ist nicht be- 
schränkt. Die preußische Gesetzgebung ist viel liberaler als die bayerische, 
dort herrschen die Katholiken und ändern doch nicht die Gesetzgebung. 
Wird mit der Freiheit der Kirche, ihrer Entstaatlichung, ernstlich ein An- 
fang gemacht, so sind die Geistlichen immer dagegen. Als in Frankreich 
die Orden unter das Vereinsgesetz gestellt wurden, waren die Bischöfe da- 
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