Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

36 Bas Veutsche Reich und seine eintelnen Glieder. (Januar 18.) 
gegen. Herr Herold will das Ordensgesetz abschaffen, aber daß die Orden 
dem Vereinsgesetz unterstellt werden, das will er auch nicht. Selbst- 
verständlich wünsche auch ich Möglichst den Frieden der Konfessionen. Diese 
Gegensätze hier sind gar nicht so böser Natur; um die katholische Religion 
kümmern wir uns gar nicht, aber wir haltem die Rechte des Staates auf- 
recht, wie es alle guten Staatsbürger tun sollen. 
18. Januar. (Reichstag.) Sozialdemokratische Interpellation 
über den Bergarbeiterstreik im Mansfelder Revier. 
Die Interpellation lautet: „Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, 
daß bei dem kürzlich im Mansfelder Bergrevier ausgebrochenen Berg- 
arbeiterstreik Militär zugezogen ist, um den Bergarbeitern die Ausübung 
ihres reichsgesetzlich gewährleisteten Koalitionsrechts zu erschweren und sie 
an dessen Ausübung zu hindern? Ist dem Herrn Reichskanzler ferner 
bekannt, daß bei diesem Streik Offiziere und Beamte sich viele Verstöße 
gegen Reichsgesetze zuschulden kommen ließen? Was gedenkt der Herr 
Reichskanzler zu tun, um solchen Vorkommnissen für die Zukunft vor- 
zubeugen?“ 
Nach einer längeren Begründung durch den Abg. Sachse ant- 
worten Staatssekretär des Innern Delbrück und preußischer Kriegsminister 
General v. Hreringen. Staatssekretär Delbrück: Es ist richtig, daß aus 
Anlaß des Streiks im Mansfelder Berg-= und Seekreis Militär zusammen- 
gezogen und bis gegen das Ende des Streiks dort verblieben ist. Nach 
Art. 66 der Reichsverfassung sind die Bundesfürsten berechtigt, ihre 
Truppen zu polizeilichen Zwecken zu verwenden, und berechtigt, Truppen 
von anderen Kontingenten für den gleichen Zweck zu requirieren. Ich 
habe zunächst zu untersuchen, ob die Verwendung des Militärs im vor- 
liegenden Falle in Uebereinstimmung mit der Reichsverfassung erfolgt ist. 
In dieser Beziehung habe ich festzustellen, daß das Militär herangezogen ist 
durch die zuständigen Landräte, nicht durch die zuständige Bergbehörde, 
nachdem am 21. Oktober in Hettstedt eine nach Tausenden zählende Menge, 
in der sich allerdings auch Frauen und Kinder befanden, schwere Aus- 
schreitungen vorgenommen hatte, denen gegenüber sich die Polizei und 
Gendarmeriemannschaften wehrlos gezeigt hatten. Es wird hiernach wohl 
nicht bestritten werden können, daß die Heranziehung des Militärs im 
Einklang mit den Vorschriften der Verfassung erfolgt ist. Es sind Aus- 
schreitungen, die dem Gericht Veranlassung zu einer Anklage wegen Land- 
friedensbruchs gegeben haben. Es ist einwandfrei festgestellt, daß eine 
große Anzahl von Arbeitswilligen aus der Menge heraus nicht nur beleidigt, 
sondern auch beschimpft, daß sie angespieen worden sind, und daß schließlich 
die vorhandenen Mannschaften der Gendarmerie und Polizei von der toben- 
den Masse an der einen Seite des Marktplatzes an die Mauer gedrückt 
worden sind. Ich betone wiederholt, daß unter diesen Umständen kein Zweifel 
darüber sein kann, daß die betreffenden preußischen Landräte durchaus im 
Einklang mit den Bestimmungen der Reichsverfassung das Militär zur 
Hilfe herbeigerufsen haben. Mit dieser Feststellung fällt auch die weitere 
Behauptung, daß das Militär herbeigerufen wäre, um die Bergarbeiter 
in der Ausübung ihres Koalitionsrechts zu beschränken. Die Frage, ob 
bei Unruhen, die aus Anlaß eines Streiks drohen oder entstehen, militärische 
Hilfe zu rufen ist oder nicht, ist zu entscheiden, unabhängig davon, welches 
die Unruhe des Streiks gewesen ist. Die Polizeibehörden haben die Pflicht, 
die öffentliche Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten mit den erreichbaren 
verfassungsmäßigen Mitteln, ohne Rücksicht auf die Ursachen, die die öffent- 
liche Ruhe und Ordnung gestört oder bedroht haben. Dabei ist der Reichs-
	        
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