Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

Das Veische Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 18.) 37 
kanzler aber der Ansicht, daß grundsätzlich die Polizeibehörden in die Lage 
versetzt werden sollten, ohne militärische Hilfe nach Möglichkeit ihre Pflicht 
zu erfüllen. Da der Reichskanzler aber in dieser Auffassung mit dem 
preußischen Minister des Innern eins ist, und der preußische Minister des 
Innern in dieser Hinsicht wiederholt Anordnungen getroffen hat, fehlt für 
den Reichskanzler die verfassungsmäßige Voraussetzung, sich aus diesem 
Grunde mit dem preußischen Minister des Innern ins Einvernehmen zu 
setzen. Es sind dann von dem Vorredner eine Reihe von Vorkommnissen 
vorgetragen, bei denen nach seiner Ansicht Militärpersonen sich bei Aus- 
übung des polizeilichen Schutzes in Widerspruch mit den reichsgesetzlichen 
Bestimmungen gesetzt haben. Da die Verantwortung für Handlungen der 
Militärpersonen auch in den hier vorliegenden Fällen allein bei den mili- 
tärischen Instanzen liegt, wird der Kriegsminister nachher auf diese An- 
führungen eingehen. Es sind ferner auch gegen Beamte der preußischen 
Verwaltungen Vorwürfe erhoben worden in der Richtung, daß auch sie 
sich mit den bestehenden Reichsgesetzen in Widerspruch gesetzt hätten. Ich 
habe in dieser Beziehung festzustellen, daß Beschwerden hierüber bis zur 
Stunde nicht an die zuständige preußische Zentralstelle, an den Minister 
des Innern gelangt sind. Auch bei dem Reichskanzler sind Beschwerden 
irgendwelcher Art nicht eingegangen. Es fehlt also bis heute dem preußischen 
Minister des Innern die Möglichkeit des Eingreifens, und es fehlt auch 
für den Reichskanzler zurzeit in diesem Punkte die Voraussetzung einer 
Verständigung mit den preußischen Behörden auf Grund des Art. 4 der 
Reichsverfassung. Ich werde aber das heute vorgebrachte Material dem 
preußischen Minister mit der Bitte übermitteln, die erhobenen Vorwürfe 
zu prüfen und eventuell Remedur eintreten zu lassen. Die Erörterung 
dieser Beschwerden wird dann an den preußischen Landtag zu verweisen 
sein, da die Amtshandlung der Beamten der einzelnen Bundesstaaten nicht 
durch die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, sondern durch die Verant- 
wortlichkeit der betreffenden Ressortchefs der Bundesstaaten gedeckt wird. 
Ich glaube unter diesen Umständen mir versagen zu müssen, auf die Einzel- 
heiten der Interpellation einzugehen, und ich glaube das um so mehr tun 
u können, als ich versichern kann, daß der Reichskanzler mit dem preu- 
hischen Minister darin einig ist, daß eine gleichmäßige unparteiische Hand- 
habung und Beachtung der Gesetze durch die Beamten und Behörden der 
Bundesstaaten eine der vornehmsten Voraussetzungen unseres Staats- 
lebens ist. 
Preußischer Kriegsminister General v. Heeringen: Ich betrachte es 
als eine günstige Fügung und Vorbedeutung, daß das erstemal, wo ich die 
Ehre habe, in meiner jetzigen Dienststellung hier im Hause sprechen zu müssen, 
es sich um die Abwehr eines Angriffs gegen die Armee handelt, der ganz 
unbegründet ist. Der Stellvertreter des Reichskanzlers hat bereits aus- 
einandergesetzt, daß von den zuständigen Behörden die Aufforderung an das 
Generalkommando des vierten Armeekorps ergangen ist, Truppen in das 
Streikgebiet zu schicken, weil die Polizeibehörden zur Aufrechterhaltung von 
Ruhe und Ordnung nicht mehr genügten. Die Militärbehörde ist gar nicht 
dafür da und hat gar nicht das Recht, diese Aufforderung nachzuprüfen. 
Sie hat einfach die Pflicht, wenn die zuständige Behörde ruft, ihr zu folgen. 
Ob Feuer oder Wassersnot die Ursache ist, oder wie im vorliegenden Falle 
aufgehetzte Mitbürger — auf die Dienstmädchen komme ich später — wir 
müssen an Ort und Stelle gehen und unsere Pflicht und Schuldigkeit tun. 
Der kommandierende General hat alsbald diejenige Truppenmacht ausrücken 
lassen, die er bei der ungeklärten Lage für erforderlich hielt. Man hat sich 
darüber aufgeregt, daß den Truppen Maschinengewehre mitgegeben worden
	        
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