Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

444 Jas Neische Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 14.) 
Exzesse, das sei bereits festgestellt, seien zu neun Zehnteln auf das Konto 
von Polizeispitzeln zu setzen, nachdem diese Behauptung in die Welt hinaus- 
gegangen ist, da waren wir nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, das 
richtig zu stellen und die Polizei gegenüber derartigen Angriffen in Schutz 
zu nehmen. Das hat mit dem schwebenden Gerichtsverfahren gar nichts 
zu tun. Den Vorwurf der Prozeßbeeinflussung Ihnen zurückzugeben, die 
Sie hier heute gegen einzelne Zeugenaussagen aus dem noch nicht ab- 
geschlossenen Verfahren mitgeteilt haben, das verbietet mir die Achtung vor 
der Unabhängigkeit der Richter. Im übrigen ist es ganz gleichgültig, ob 
die Angeklagten verurteilt oder freigesprochen werden. Die moralische Mit- 
schuld der Sozialdemokratie an den Moabiter Vorgängen steht fest. (Stür- 
mische Unterbrechung bei den Sozialdemokraten. Erst nach längerer Zeit 
kann sich der Reichskanzler wieder Gehör verschaffen.) Er fährt fort: Ueber 
die Mitschuld der Sozialdemokratie wird nicht von dem Moabiter Gericht 
das Urteil gesprochen, sondern darüber richtet die Oeffentlichkeit und sie 
hat es bereits getan. (Lebhafte Zustimmung r. und Lärm b. d. Sd.) Und 
das Urteil steht so fest und sicher, daß es weder durch dialektische Kunst- 
fertigkeiten, noch durch Zeugenaussagen über vereinzelte Mißgriffe von ein- 
zelnen Polizeibeamten über unschuldige Opfer, noch durch die Zwischenrufe, 
ie Sie uns hier immer wieder an den Kopf geworfen haben, irgendwie 
beeinträchtigt wird. (Stürmischer wiederholter Beifall rechts und ebenso 
stürmische Unterbrechung b. d. Sd., Zurufe wie: Schamlosigkeit, Frechheit, 
ertönen und der Vizepräsident Schultz erteilt dafür Ordnungsrufe an d. 
Sd. Der Lärm hält längere Zeit an.) 
14. Dezember. (Reichstag.) Die Wertzuwachssteuer wird in 
der Kommission mit 15 Stimmen gegen 1 (Rp.) angenommen. 
7 Mitglieder (Sd. und Fortschr. Vp.) enthalten sich der Abstimmung. 
14. Dezember. (Reichstag.) Schluß der ersten Lesung des Etats. 
Abg. Dr. Heinze (Nl.): Warum ist die Erbschaftssteuer abgelehnt 
worden? Die Haltung des Zentrums erklärt sich durch politisch-taktische 
Momente; das geht aus der ganzen Haltung des Zentrums hervor. Das 
Zentrum wollte den Reichskanzler stürzen, weil es ihm daran lag, den 
Block auseinanderzusprengen und einen Keil zwischen Rechte und Linke zu 
treiben. Auch die Konservativen sind in ihrer Haltung bei der Finanz- 
reform durch politische Gründe bestimmt worden, nicht durch wirtschafts- 
politische. Ihr politisches Motiv war: Sie fürchteten Liberalisierung 
durch den Block und den Fürsten Bülow. Diese Liberalisierung Deutsch- 
lands läßt sich nicht aufhalten. (Sehr richtig! links.) Wie wollen Sie 
das aufhalten in einem Lande, das das allgemeine Wahlrecht und die all- 
gemeine Wehrpflicht besitzt? Wie wollen Sie das aufhalten bei der Frei- 
zügigkeit und bei dem Anwachsen der Industrie? Alle diese Dinge lassen 
es als unbedingt notwendig erscheinen, daß Deutschland auf dem Wege der 
Liberalisierung fortschreitet. Was Sie aber durch Ihr Verhalten gelan 
haben, was wir nicht wollten, und was auch Sie nicht wollten, das ist die 
Radikalisierung des Volkes. Die breiten Massen des Volkes sind durch 
indirekte Steuern belastet worden, ohne daß das gleiche beim Millionen- 
besitz geschähe. Das hat die Verbitterung herbeigeführt und das wollten 
wir nicht, sondern wir wollten einen gerechten Ausgleich. Daß die all- 
gemeine Radikalisierung fortgeschritten ist, können Sie nicht bestreiten. Wir 
haben keinen Vorteil davon gehabt, sondern die Sozialdemokratie hat allein 
den Nutzen davon. Unser Unglück war es nur, daß wir so häufig an den 
Nachwahlen beteiligt waren. Wären Sie daran beteiligt gewesen, so hätten
	        
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