446 Jos Deuische Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 15.)
die sozialdemokratischen Presseäußerungen ein, um nachzuweisen, daß die
Sozialdemokratie politische Verbrecher verherrliche. Herr Noske meint, daß
es andern Monarchen ebenso ergehen könne wie dem König von Portugal.
Ich bin überzeugt, daß das nicht der Fall sein wird und daß die deutschen
Fürsten und vor allem der Kaiser sich anders benehmen werden als der
König Manuel. Ich rate Ihnen (zu den Sozialdemokraten), wenn Sie
jemand zum Kaiser mit einer Abdankungsurkunde schicken, dazu keine
Familienväter auszuwählen, denn dieses Amt dürfte lebensgefährlich sein.
Nachdem ein lebhaft bekämpfter Antrag auf Schluß der Debaite mit
118 gegen 112 Stimmen abgelehnt war, verteidigt Abg. Böhme (Wildlib.)
den Bauernbund als Förderer der Getreidezölle und verlangt die Aus-
führung des Enteignungsgesetzes in der Ostmark.
Abg. Müller-Meiningen (Fortschr. Vp.): Nicht nur die Reichs-
finanzreform hat die Verbitterung hervorgerufen im ganzen Volk. (Zuruf:
Vereinsgesetz.) Nein, meine Herren, aber die preußische Wahlrechtsvorlage.
Die ganze Farce, die Sie mit den Konservativen im preußischen Ab-
geordnetenhaus vorgenommen haben, das sind die Dinge, vor allem auch
die Besprechung der Kaiserrede jüngst hier. Bei allen diesen Dingen tritt
das konservativ-klerikale Wahlgeschäft hervor. Das Zentrum ist die Partei
abgegrenzter politischer Möglichkeiten. In der Borromäus--Enzyklika ist die
Regierung mit einem Lorber hausieren gegangen, der gar keiner war. Es
war eher eine Niederlage. Die Regierung bekam nur Selbstverständlich-
keiten zur Antwort. Die Enzyklika sollte nicht in deutschen Blättern ver-
öffentlicht werden. Das war auch gar nicht nötig, die Enzyklika war
veröffentlicht worden, das konnte vom Papste gar nicht mehr redressiert
werden.
Abg. Gröber (3.): Der Freisinn und der Fortschritt haben immer
versagt, wenn es galt, Steuern zu bewilligen. Es ist der Beweis für die
politische Unzulänglichkeit des Vorgängers des Herrn Reichskanzlers, daß
er mit einer solchen Partei in einen Block sich einlassen konnte. (Sehr
richtig! im Zentrum.)
Abg. Dr. Frank (Sd.): Die Sabotage hat bei uns in Deutschland
keinen Eingang gefunden. Die Vergehen bei Streiks sind zurückgegangen.
Das ist nicht das Verdienst der Regierung, sondern der deutschen Arbeiter.
Eine Arbeiterschaft, die gegen den Schnaps mit Erfolg angekämpft hat,
verdient nicht, daß man sie unter Ausnahmegesetze stellt. Moabit, das der
Beweis sein sollie, hat versagt, und gestern hat der Reichskanzler einen
Rückzug antreten müssen. Die „moralische Schuld“" sollen wir jetzt haben.
Das Wort moralische Schuld in diesem Zusammenhange gebraucht ist un-
moralisch und zeugt von keinem Verantwortungsgefühl.
Nach einigen weiteren Reden über parteipolitische Streitpunkte wird
der Etat einer Kommission überwiesen. Das Haus vertagt sich bis zum
10. Januar 1911.
15. Dezember. (Eltville.) Der Zusammenbruch der Zentral-
verkaufsgesellschaft m. b. H. deutscher Winzervereine führt zur Auf-
lösung der Nassauischen Landwirtschaftlichen Genossenschaftskasse,
einer Raiffeisenorganisation.
15. Dezember. (Oldenburg.) Landtag. Die Lehrerpetition
um Abänderung der Dienstanweisung zum Schulgesetz wird mit
den Stimmen der Liberalen und Sozialdemokraten gegen die des
Zentrums und der Agrarier angenommen.