Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

46 Das Veuische Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 19.) 
die dargelegten Grundsätze verstoßen, so mögen die Beteiligten den Beschwerde- 
weg ergreifen. Ich glaube nicht, daß der Minister berechtigte Beschwerden 
im Gegensatz zu seinen ausdrücklichen Anweisungen zurückweisen wird. Das 
ist in Preußen nicht Mode. In das Beamtenrecht greift das Vereinsgesetz 
nicht ein. Auch die Beschränkung des Vereinsrechts durch kirchliche Obere 
kann nicht aus diesem Gesichtspunkte behandelt werden. Es handelt sich 
da um die Frage, ob die kirchlichen Oberen in der Lage sind, den An- 
gehörigen ihrer Kirche gewisse Beschränkungen in der Anwendung ihres 
Vereinsrechtes aufzuerlegen. Es kann sich ferner um die Frage handeln, 
inwieweit die Befugnis der geistlichen Oberen ihrerseits einschneidet in die 
Hoheitsrechte des Staates, beispielsweise in dem Schulgesetze; aber auch 
diese Frage ist nicht zu erörtern auf Grund des Vereinsgesetzes, sondern 
des Kirchen= und Schulrechts. Ich werde das ganze Material des Herrn 
Dr. Müller zur Aufklärung und eventuell Remedur den zuständigen Bundes- 
regierungen übergeben. Ich habe die feste Ueberzeugung, daß die Zentral- 
behörden der Bundesstaaten eine Lösung finden werden, die dem Staats- 
bewußtsein und der Würde eines großen und gut regierten Staates entspricht. 
Ich kann alle die, denen wirklich und ehrlich daran liegt, daß dieses Gesetz 
durch Verwaltung und Gerichte sinngemäß und entsprechend angewendet 
wird, nur dringend bitten, vor allem dafür zu sorgen, daß Beschwerden 
auf dem vorgeschriebenen Instanzenwege vorgebracht werden. Nur auf diese 
Weise werden wir dahin kommen, daß die Grundlagen zweifelsfrei festgelegt 
werden, nach denen, wie wir alle hier im Hause einig sind, dieses Gesetz 
angewendet werden soll. 
Sächsischer Bevollmächtigter Dr. Hallbauer: Es ist unrichtig, daß 
das Vereinsgesetz in Sachsen völlig ignoriert werde. Auf die von Dr. Müller 
vorgebrachten Einzelfälle kann ich nicht eingehen, da sie mir unbekannt sind. 
Es scheint mir aber, als ob es sich um polizeiliche Maßnahmen handelt, 
die sich nicht auf das Vereinsgesetz stützen. Man sollte einzelne Fälle nicht 
verallgemeinern. Die königlich sächsische Regierung hat eine Instruktion 
berausgegeben, in der als oberster Grundsatz aufgestellt wurde, daß das 
Gesetz im liberalen Sinne ausgeführt werde. Von einer Nadeistichpolitik 
kann bei der sächsischen Regierung jedenfalls nicht die Rede sein. Man 
kann ihr nicht vorwerfen, daß sie einem verknöcherten Bureaukratismus 
huldigt. 
Auf Antrag des Abg. Dr. Struve (Fr. Vgg.) tritt das Haus in die 
Besprechung der Interpellation ein. 
Abg. Dr. Hieber (Nl.): Nach der Erklärung des Staatssekretärs sind 
die Verbündeten Regierungen ehrlich bemüht, das Gesetz seinem Sinn und 
Geiste nach loyal auszuführen. Wir nehmen davon mit Vergnügen Akt, 
ebenso wie von der Erklärung des sächsischen Vertreters, daß das Geses 
liberal ausgeführt werden soll. Wir haben damit die Antwort auf die 
Frage erhalten, was „liberal“ ist. Verstöße gegen das Gesetz sind weniger 
den oberen als den unteren Behörden zuzuschreiben. Bei uns im Süden 
hat man kein Verständnis für den Versuch, auf dem Wege der Polizei- 
maßnahmen der Freiheit des Vereins= und Versammlungsrechtes zu be- 
schränken. Bei uns ist keine Beschwerde über die Ausführung des Vereins- 
gesetzes bekannt geworden. In Württemberg ist die Einführung des Gesetzes 
gar nicht gemerkt worden. Abg. Gröber: Doch!) Das Schwabenvolk hat 
nichts gemerkt; man ist durchaus zufrieden mit der neuen Regelung, wir 
sind froy, daß die bisherige Uebung verbrieftes Recht geworden ist. In 
Breslau ist der Vorstand eines freisinnigen Vereins bestraft worden, weil 
er eine öffentliche politische Versammlung nur als öffentliche und nicht als 
politische angemeldet hat. Unter allen Umständen liegt hier ein ungeheurer
	        
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