Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

540 Frankreich. (Juni 9.) 
und dieses kann seinen Ausdruck nur in der Mehrheit finden. Das Prinzip 
der Mehrheit schafft die Gewalt und erlaubt zu regieren. Es muß bis in 
die kleinsten Wahlbezirke zur Geltung kommen. Jeder noch so verführerische 
und genial ausgedachte Wahlmodus, welcher unter der Vortäuschung arith- 
metisch gerecht erscheinender Stimmenverteilung der Minderheit das Mittel 
gibt, die Staatsgewalt zu hemmen und zum Stillstand zu bringen, wird 
zu einer Zerstörung des Regimes und durch die Anarchie zum Untergang 
der Republik führen. Unter diesem Vorbehalt ist es nützlich und gerecht 
und für die Zukunft des parlamentarischen Regimes sogar notwendig, daß 
die Meinungen der Minderheit, sobald sie eine wirkliche Bedeutung be- 
anspruchen dürfen, nicht erstickt werden, sondern in den Beratungen der 
Volksvertretung zum Ausdruck kommen. Die Regierung gedenkt binnen 
kurzem eine Wahlvorlage einzubringen, welche die Wahl einer nach Dritt- 
teilen zu erneuernden Kammer vorschlägt unter Zugrundelegung der Listen- 
wahl mit einer der Stimmenzahl ihrer Kandidaten entsprechenden Ver- 
tretung der Minderheiten. Die Regierung hat die Absicht, ohne jede 
Intransigenz an der Diskussion der Einzelheiten teilzunehmen. Das 
Problem ist schwierig und kompliziert und bei seiner Lösung muß man 
sich vor Experimenten hüten. Das Werk setzt eine politische Ehrlichkeit 
voraus und ist nur durchführbar, wenn die Mitarbeiter lediglich das Wohl 
des Landes und das Interesse der Republik im Auge behalten. Es ist 
aber jetzt schon angezeigt vor gewissen Hintergedanken zu warnen und sich 
sofort klar zu machen, daß die Annahme der Wahlreform dem gegenwärtigen 
Parlament kein voreiliges Ende bereiten darf. Im Gegenteil, die Kammer 
bedarf weiterhin ihrer ganzen Arbeitskraft für die Reform der Ver- 
waltung. 
Die Erklärung der Regierung äußert sich weiterhin ausführlich 
über die von der Regierung beabsichtigte Reform der Verwaltung, über 
die Reform des Gerichtswesens und über den Ausbau der Arbeiter- 
gesetzgebung. Sie fährt dann fort: Die Republik bedarf zur Durch- 
führung ihres Werkes mehr als jede andere Regierung des Friedens im 
Aeußeren und im Inneren. So aufrichtig wir aber dem internationalen 
Frieden ergeben sind, so müssen wir uns doch bedacht zeigen, unsere 
materielle Gewalt zu erhalten, denn sie ist die sicherste Garantie unserer 
Unabhängigkeit und unserer Würde. Die Republik hat eine Allianz und 
Freundschaftsverhältnisse eingegangen, welche sie erhalten und stärken 
sollen. Aber diese Abmachungen setzen voraus, daß wir unseren Rang in 
der Welt behalten. Der Wert unserer Mitarbeit wird nach unserer Stärke 
bemessen und wir handeln nur loyal gegenüber unseren Verbündeten und 
Freunden, wenn wir unsere Streitmacht erhalten und niemals erlahmen, 
sie auszubauen. Zu diesem Zweck ist die Regierung entschlossen, von dem 
Lande die unerläßlichen Opfer zu verlangen. Sie hat die Absicht, ins- 
besondere von dem Parlament in kürzester Frist die Verhandlung über die 
der Kammer vor einigen Monaten gemachte Flottenvorlage zu verlangen. 
Es ist dringend, daß dieses Gesetz zur Annahme gelangt im höheren 
Interesse der Nation. 
Die Erklärung betont dann das Bedürfnis einer Finanzreform. 
Die Regierung erklärt sich bereit, im Senat an der Durchführung der 
Einkommensteuer mitzuarbeiten auf Grund des von Caillaux ausgearbeiteten 
Entwurfes, dessen Prinzipien mit Unrecht als vexatorisch kritisiert worden 
seien. Die Regierung, so fährt die Erklärung fort, muß auf eine dauernde 
Mehrheit rechnen können, eine Mehrheit, deren Mitglieder sich nicht nach 
Zufall oder nach Umständen oder nach persönlichem Belieben um die 
Regierung gruppieren, sondern weil sie die gleichen Ideen verfolgen und
	        
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