frankreich. (Oktober 30.) 547
Jaures wirft dem Ministerpräsidenten vor, daß er vor 3 Jahren
selber Propaganda für die Koalitionsfreiheit der Arbeiter gemacht habe.
Die Erklärung des Ministeriums, daß es sich solidarisch fühle, bezeichvet
Jaures als unwahr, da Viviani seit dem 6. Oktober seine Demission an-
geboten habe. Briand erkennt das Recht der Eisenbahner auf den Streik
an; aber es müsse in legaler Form ausgeübt werden. Es habe kein Zweifel
bestehen können, daß der Ausstand gegen die Sicherheit der Nation ge-
richtet war, und daß er schon in seiner Vorbereitung auf eine gewaltsame
Ausführung geplant war. „Das Land kann nicht seine Grenzen offen-
stehen lassen, und wenn die Regierung kein gesetzliches Mittel gefunden
hätte, Herr der Eisenbahnen bis an die Grenze zu bleiben, so hätte sie
bis zu ungesetzlichen Mitteln gehen müssen.“ (Stürmische Rufe bei den
Sozialisten und einzelnen Radikalen: „Warum haben Sie das Parlament
nicht gerufen?") Briand: „Es kann Fälle geben, wo man im
höheren Interesse selbst zur Ungesetzlichkeit greifen muß."“ Der
Redner will diesen Satz erklären, aber alle Sozialisten schreien: „Demission,
Demission“, und begleiten diesen rhythmischen Ruf mit einem lauten
Klappen der Pultdeckel.
Briand spricht weiter. Die Abgeordneten aus der Mitte steigen in
das Rondell herab und scharen sich um die Tribüne. Briand fährt fort, zu
ihnen zu sprechen. Man sieht seinen Mund und seine Hände sich bewegen,
man sieht seine Zuhörer klatschen, aber man hört von allem nichts.
Die Sozialisten, denen sich der Radikale Ceccaldi zugesellt, fahren
mit ihrem Höllenlärm fort, selbst Jaures und Jules Guesde klappen be-
ständig ihre Pultdeckel auf und zu.
Endlich hat Briand geschlossen, seine Freunde umringen ihn und
führen ihn durch das Gedränge zu seinem Platz.
Präsident Brisson gibt seinem Bedauern Ausdruck, daß die Er-
klärungen Briands nicht angehört wurden.
Die Debatte wird geschlossen.
30. Oktober. (Kammer.) Sechster Tag der Debatte über
die Streikinterpellation.
Der Deputierte Benazet, ein Freund Briands, machte die Kammer
stutzig, indem er auf die miltitärische Gefahr des Streiks hinwies. Er
verstieg sich dabei zu der Behauptung: „Wenn Herr Briand alles sagen
wollte, was er weiß, so würden Sie Augen und Ohren öffnen. Herr
Briand weiß, daß der Deutsche Kaiser sich höchst wegwerfend über jeden
französischen Mobilisierungsversuch geäußert hat, daß es ihm, dem Keiser,
doch nur ein Wort koste, um die französischen Eisenbahner in den all-
gemeinen Ausstand zu treiben und damit jede Kriegführung unmöglich zu
machen.“ .
Briand rettete die Situation durch seine Schlußrede: „Heute,
nachdem ich ernsten Ereignissen gegenübergestanden, die ich nicht voraus-
sehen konnte und angesichts deren die Regierung nicht aufgehört hat, ihren
Willen zur Gerechtigkeit für alle zu bekunden, ohne gewaltsame Unter-
drückung mit Mäßigung und Zurückhaltung, trete ich, nachdem die Ordnung
auf der Straße wiederhergestellt, vor Sie, ohne die Grenze der Gesetz-
lichkeit überschritten zu haben, ohne einen Tropfen Blut an den Händen
und bitte Sie um dasselbe Vertrauen. Verweigern Sie es, so wird der
„Diktator“ sich beugen, wollen Sie ihn aber stürzen, so tun sie es am
hellen Tage!“ (Beifall.) Nachdem Briand bemerkt hatte, Frankreich sei
in den Augen der Welt groß aus den bedrohlichen Ereignissen hervor-
gegangen, die es hinter sich habe, schloß er: „Meine Herren von der
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