Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

560 Italien. (April 30.—Juni 7.) 
Erhaltung der Staatsangehörigkeit. Die Kirchenpolitik des Kabinetts, so 
fuhr der Ministerpräsident sort, werde darin bestehen, allen Religionen die 
Freiheit der Entwicklung innerhalb der staatlichen Hoheitsgrenzen zu sichern. 
Was die politischen Reformen betreffe, so solle vor allem die politische 
Energie der beiden Häuser des Parlaments gestärkt werden. So solle von 
der nächsten Tagung ab der Senat seine Präsidenten und seine Vize- 
präsidenten selbst ernennen. Für die Wahlen zur Kammer solle eine 
Aenderung der Wahlkreiseinteilung in den großen Städten angestrebt 
werden, die den Versuch gestatten würde, ob das Proportionalsystem den 
sozialen und politischen Verhältnissen Italiens entspreche; später solle dann 
die Frage untersucht werden, ob es möglich ist, die Teilnahme des Volkes 
am Staatsleben dadurch auf eine breitere Basis zu stellen, daß allen groß- 
jährigen Bürgern, die lesen oder schreiben können, das Wahlrecht bewilligt 
wird. Der Ministerpräsident berührte dann die Frage der Schiffahrts- 
subventionen und schlug vor, daß durch ein Gesetz eine parlamentarische 
Kommission geschaffen werde mit dem Auftrage, die Frage zu prüfen und 
möglichst bald endgültige Maßregeln vorzuschlagen. Schließlich ersuchte 
der Ministerpräsident die Kammer um ein klares und offenes Urteil, da 
die Wichtigkeit der der Lösung harrenden Probleme eine schwache oder nur 
geduldete Regierung nicht gestatte. (Langanhaltender Beifall.) 
30. April. Nach langer Debatte über das Regierungsprogramm, 
speziell die Wahlreform, die Schiffahrtssubvention und die religiöse 
Frage erteilt die Kammer der Regierung mit 393 gegen 17 Stimmen 
(bei 6 Stimmenthaltungen) ein Vertrauensvotum. 
15. Mai. (Mailand.) Frredentistische Österreicher. 
700 Besucher aus Triest werden im Hofe des Sforzaschlosses durch 
den Bürgermeister Gabba begrüßt. Durch die Regierung werden aber 
die beabsichtigten irredentistischen Kundgebungen verhindert. 
27. Mai. Garibaldi-Feier. 
Der Tag, an dem vor 50 Jahren Garibaldi durch einen Handstreich 
das Königreich beider Sizilien für die nationale Sache gewann, wird festlich 
begangen. In Palermo wird ein Freiheitsdenkmal enthüllt. Der König 
und die Königin empfingen 101 Ueberlebende der Tausend von Marsala 
im Garten des dortigen Königlichen Palastes. 
W. Mai. Die Kammer nimmt in geheimer Abstimmung mit 
188 gegen 58 Stimmen den Gesetzentwurf über die Schiffahrts- 
konventionen an. 
29. Mai. Prozessionsfrage. 
Da die Behörden die früher untersagten kirchlichen Prozessionen 
auf öffentlicher Straße seit einigen Jahren dulden, so richtet sich nach dem 
Bekanntwerden der Borromaeus-Enzyklika (s Römische Kurie, 26. Mai) die 
Agitation der Antiklerikalen mit erhöhter Schärfe gegen diese Toleranz. 
Bei einer Störung einer Prozession muß die Polizei einschreiten, wobei 
6 Personen verwundet werden. 
7. Juni. In den Provinzen Salerno und Avellino in Süd- 
italien finden heftige Erdbeben statt, denen auch Menschen zum 
Opfer fallen.
	        
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