Selsien. (Oktober 25.—November 22.) 577
25. Oktober. (Brüssel.) Besuch des deutschen Kaiserpaares.
Der Jubel der Bevölkerung ist überraschend herzlich.
26. Oktober. (Brüssel.) Kaiser Wilhelm empfängt den
Prinzen Viktor Napoleon, den Bräutigam der Prinzeffin Clementine.
30. Oktober. Die frangösisch geschriebenen Blätter übernehmen
aus dem Pariser „Temps“ die von seinem Korrespondenten aus
Wien besorgten Meldungen über das „erstaunliche Ereignis“,
daß der Kaiser seinen Trinkspruch in deutscher Sprache aus-
gebracht hat.
4. November. Zur Befestigung VBlisfingens.
Die „Indépendance belge"“ betont die Gefahr, daß nach Voll-
endung der geplanten Befestigungen bei Vlissingen die Unabhängigkeit
Belgiens und die Neutralität des Hafens von Antwerpen in unruhigen
Zeiten durch eine in die Schelde einlaufende englische Flotte nicht mehr
erzwungen werden können. Angeblich soll Deutschland den Holländern den
Rat zur Befestigung Vlissingens gegeben haben. Da Antwerpen oberhalb
Vlissingens an der Scheldemündung liege, so sei die Absperrungsgefahr
mit der 1839 von den Großmächten garantierten Neutralität unvereinbar.
7. November. (Brüssel.) Schluß der Weltausstellung.
8. November. (Kammereröffnung.) Ausschreitungen gegen
den König.
Als König Albert zum Parlament fuhr, um die Session persönlich
mit einer Thronrede zu eröffnen (was in den letzten 30 Jahren nicht ge-
schehen war), riefen ihm Demonstranten, die mit Bannern „Das allgemeine
Stimmrecht“ und „Kammerauflösung“ erschienen waren, allerlei Schlag-
worte zu. In der Kammer rufen die Sozialisten nach dem Hoch auf den
König: Es lebe das allgemeine Stimmrecht! Auflösung der Kammer! Auf
dem Rückwege wiederholen sich die Demonstrationen.
Die Thronrede ersucht, die Sprachenkämpfe mit Mäßigung zu
führen, den Mittelstand durch Förderung des Fachunterrichts zu heben
und dem Familienvater das Recht zu gewährleisten, den ihm genehmen
Unterricht für sein Kind auszusuchen. Das Ergebnis des neuen Militär-
gesetzes sei günstig und die Finanzlage gut. Die Reformen in der Kongo-
kolonie sollen im laufenden Jahr vervollständigt werden.
Man entnimmt aus der Thronrede ein Bekenntnis des Königs
zu dem Programm der Altklerikalen unter Führung des Herrn Weeste.
22. November. (Kammer.) Diskussion über die Antwort auf
die Thronrede.
Abg. Franck bemängelt, daß die Thronrede über die beiden wich-
tigsten liberalen Forderungen, nämlich Schulzwang und gleiches, direktes,
allgemeines Stimmrecht, nichts sage, obwohl selbst klerikale Abgeordnete
sich vor ihren Wählern verpflichtet haben, für diese Forderungen der Zeit
einzutreten. Der Führer der Klerikalen Woeste bekämpft jede Art von
Reform und erklärt: „Es gibt keine Verpflichtungen vor den Wählern,
und wenn solche Verpflichtungen eingegangen worden sind, so haben sie
keinen Wert.“ Dagegen tritt der Führer der „demokratischen Christen“
Daens für die liberalen Reformen ein.
Europäischer Geschichtskalender. II. 37