Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

596 Nußland. (Mai 17.—Juni 2.) 
17. Mai. (Duma.) Der Präsident beschloß, die zahlreichen 
aus dem Auslande einlaufenden Proteste gegen die Finnlandvorlage 
weder zu veröffentlichen noch im Plenum verlesen zu lassen. 
19. Mai. Rußland und England in Persien. 
Die „Rossija“ veröffentlicht einen Artikel über die englisch-russischen 
Vorrechte in Persien: Da Persien gegen russische und englische Banken be- 
deutende Schuldverpflichtungen eingegangen sei, stehe beiden Mächten un- 
bestreitbar das Recht zu, darauf zu bestehen, daß Einnahmeposten, durch 
welche diese Schulden sichergestellt sind, nicht als Garantien für neue Ver- 
pflichtungen dienen, und daß die von diesen Banken der persischen Regie- 
rung zu verschiedenen Zeiten gewährten kleinen Darlehen vorher in ge- 
bührender Weise formuliert und sichergestellt werden. Ebensowenig sei die 
Rede davon gewesen, die Handelsinteressen des Dreibundes oder überhaupt 
irgendeines Staats zu beengen. Das englisch-russische Abkommen von 1907 
setze klar das Prinzip gleicher Rechte für Handel und Industrie aller 
Völker in Persien fest, und die Handlungsweise Rußlands wie Englands 
habe niemals in Widerspruch mit diesen Prinzipien gestanden. Beide 
Staaten, besonders Rußland, das gegen hundert Millionen für Persien 
aufgewandt, hätten ein unbezweifelbares Recht auf die politische Vor- 
herrschaft in Persien und ebenso das Recht, zu fordern, daß ihre strate- 
gischen Interessen in den ihren Grenzen benachbarten Rayons vollkommen 
gesichert werden. Diese Ansicht teile offenbar die deutsche Regierung; 
wenigstens berechtige zu dieser Annahme die vom Reichskanzler Fürsten 
v. Bülow im Jahre 1909 im Reichstage abgegebene Erklärung, wonach 
die deutschen Interessen in Persien ausschließlich wirtschaftlicher Natur 
seien. Demzufolge habe Deutschland schwerlich Grund, in dem Umstande, 
daß die beiden Mächte das Recht des Eisenbahnbaus und einige andere 
Konzessionen von gleichfalls politischer und strategischer Bedeutung für sich 
beanspruchen, eine Verletzung deutscher Rechte zu erblicken. Wenn Deutsch- 
land geneigt sei, Rußlands Vorrechte in Persien und seine volle Bereit- 
willigkeit anzuerkennen, den deutschen Wünschen hinsichtlich der Handels- 
interessen entgegenzukommen, dann sei für eine beide Teile vollkommen 
befriedigende Verständigung über die persischen Angelegenheiten zweifellos 
ein günstiger Boden vorhanden. 
25. Mai. (Moskau.) Der Inspektor der Detektivpolizei 
Muratow wird von einem Anarchisten ermordet. 
27. Mai. (Moskau.) Fünszig reiche jüdische Kaufleute 
werden mit ihren Familien ausgewiesen. 
30. Mai. (Duma.) Mit 182 gegen 165 Stimmen wird in 
der Gesetzesvorlage auf Einführung von Semstwos für die sechs 
westlichen Gouvernements der Artikel 3 aufgenommen, der das über- 
wiegen der Abgeordneten russischer Herkunft sichert. 
2. Juni. (Duma.) Die Finnlandvorlage der Regierung 
wird mit 196 gegen 105 Stimmen in erster Lesung an- 
genommen. 
Alle Balten stimmten dagegen. Da die Mehrhbeit sich weigerte, über 
die Vorlage nach einzelnen Artikeln zu debattieren, so verließ die ganze 
Opposition den Saal.
	        
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