Nebersicht über die pelilische Eutwickelung des Jahres 1910. 685
zu erhalten und dem Toben der hellenistischen Agitation in Griechen-
land, die zuweilen eine antidynastische Tendenz verriet, warnend
zuzusehen. Die Revolution in Portugal fand die europäischen
Mächte einig in dem Entschlusse, jede Einmischung zu vermeiden.
Die Hoffnung der mohammedanischen Welt, sich nach den neu be-
lebten eigenen Antrieben ungestört zu entwickeln, verknüpft sich
leicht mit besonderen Sympathien für das Deutsche Reich, weil von
dorther auch früher niemals eine Gefahr drohte. Um Militär-
missionen oder Instrukteure zu erhalten, wandten sich außer der
Türkei auch Brasilien und Argentinien nach Berlin, während
Serbien in der Behandlung der rein geschäftlichen Angelegenheit
von Submissionslieferungen der Abneigung gegen den Unterstützer
von Österreichs erfolgreicher Politik die Zügel schießen ließ. Auch
die Behandlung der türkischen Anleihe in Paris und London,
Wien und Berlin nahm eine politische Färbung an, weil die
beiden Westmächte der Pforte ihre Unzufriedenheit fühlbar machen
wollten.
Für die innere Politik des Deutschen Reichs ergaben
die Nachwirkungen der Finanzreform vom Sommer 1909 auf das
Parteileben einen neuen Ausgangspunkt. Die öffentliche Meinung
rechnete mit dem politischen übergewicht derjenigen Parteien, denen
gegenüber die verbündeten Regierungen beim Abschluß der Finanz-
gesetze trotz der vorangegangenen entschiedenen Erklärungen eine
überraschende Nachgiebigkeit bewiesen hatten. Der „schwarz-blaue
Block“ erschien den nicht an ihm Beteiligten nicht nur als Nach-
folger des während der Finanzreformkämpfe in die Brüche ge-
gangenen liberal-konservativen Blocks, den Fürst Bülow im De-
zember 1906 geschaffen hatte, sondern als der gebietende Faktor
im Reich und in Preußen. Die Zurückhaltung des Reichskanzlers
im ersten Halbjahr seiner Staatsleitung wurde als Mangel an
Entschlußkraft gedeutet, den namentlich der Führer der Konser-
vativen in der Finanzkampagne, von Heydebrand, wohl auszunutzen
verstehen würde. Es sollte sich aber zeigen, daß die Prognose falsch
gestellt war. Was Fürst Bülow als Folge der veränderten Situa-
tion vorausgesagt hatte: Schwäche in der Polenpolitik und Wieder-