Nebersicht über die pelitishe Eutwichelung des Jahres 1910. 687
schwand der Vorschlag der Revisionisten, die ganze Linke von Lieb-
knecht bis Friedberg zur Erlangung eines zeitgemäßen Wahlrechts
mit neuer Wahlkreiseinteilung zu vereinigen. Bei der Einführung
des Entwurfes im Abgeordnetenhaus bemühte sich der von den
Sozialdemokraten mit Pfuirufen empfangene Ministerpräsident, die
überschätzung der formalen Wahlrechtsbestimmungen ausführlich
und tiefgründig nachzuweisen (S. 110 —120). Der etwas entsagungs-
volle Ton seiner Argumente ließ ihn auch das Leitmotiv von
„gottgewollten Abhängigkeiten“ herbeiziehen und das Geständnis
einflechten: „Wir befinden uns kulturell in einer Periode der
Stagnation“, so daß die Wahlrechtsvorlage die Formel werden
konnte, in der sich alles, was an politischer Mißstimmung besteht,
zusammenfaßt. Je höher die Unzufriedenheit über den Gang der
Wahlrechtsverhandlungen bei den Liberalen stieg, um so mehr
gefiel sich die Presse darin, dem Reichskanzler auf Grund seines
parlamentarischen Debuts den Philosophenmantel umzuhängen,
worüber er sich selbst lustig machte (S. 137). Es kam allerdings
in der Debatte des preußischen Abgeordnetenhauses am 12. Februar
zu einer Situation, in der der Ministerpräsident erklärte: „Ich
habe Anspruch darauf, daß das für ernst genommen wird, was ich
hier im Namen der Staatsregierung erklärte“ (S. 126). Aus der
Erregung der Debatte bei der ersten Lesung der Wahlrechtsvorlage
gingen die Bestrebungen hervor, die Geschäftsordnung des Ab-
geordnetenhauses zu verschärfen. In der Kommission wurden die
Wahlrechtsprivilegien der Regierungsvorlage einstimmig abgelehnt.
Der „kombinierte“ Antrag des Zentrums und der Konservativen
verlangte im geraden Gegensatz zu den wichtigsten Bestimmungen
des Regierungsentwurfs Beibehaltung des indirekten Wahlverfahrens
und Einführung der geheimen Abstimmung bei den Urwahlen.
Inzwischen wurden die Außerungen des Reichskanzlers bei Ein-
führung der Wahlrechtsvorlage im Reichstage zum Gegenstand einer
sozialdemokratischen Interpellation gemacht (S. 142—146), denn
man wollte aus ihnen eine Herabsetzung oder Bedrohung des all-
gemeinen, gleichen, geheimen Wahlrechts ableiten, das für den
Reichstag gilt. Bei der Beantwortung zeigte der Reichskanzler
eine robustere, die Streitlust und den unverwüstlichen Idealismus