690 Aebersicht ũber die pelitische Entwickeln#s des Jasres 1910.
Schorlemer und am 21. Mai die Wiederholung der Abstimmung
über die so amendierte Wahlrechtsvorlage mit 127 gegen 82 Stimmen.
Als nun die neue Beratung im Abgeordnetenhaus einsetzte, erklärte
der Ministerpräsident, daß die Nichtannahme der Herrenhaus-
beschlüsse ein Scheitern der ganzen Vorlage zur Folge haben werde,
und, als dennoch der entscheidende § 6 mit großer Moajorität ab-
gelehnt wurde, zog er am 27. Mai die Vorlage zurück. Mit dem
Bestehenbleiben des preußischen Wahlsystems ist die konservative
Presse sehr zufrieden; die „Germania“ nimmt „die Niederlage der
Regierung nicht tragisch“, „weil das Wahlrechtserbteil des Fürsten
Bülow zum Bankerott gelangt ist“; die liberale Presse sieht einen
Trost darin, daß die Bahn zu einem neuen, höheren Anlauf wieder
frei geworden ist.
Den Bundesrat und Reichstag beschäftigte die Regierung
mit einer großen Reihe wichtiger politischer, finanzieller, sozialer
und juristischer Vorlagen. Die Ankündigung der Verfassungs-
fortbildung für Elsaß-Lothringen durch den Reichskanzler klang sehr
hoffnungsvoll; nach Erwähnung der dabei zutage tretenden, staats-
rechtlichen Bedenken prägte er das schöne Diktum: „Derartige
Schwierigkeiten sind dazu da, überwunden zu werden.“ Wenigstens
im Bundesrate gelang es noch vor Schluß des Jahres, die ein-
stimmige Annahme des neuen Verfassungsentwurfes für die Reichs-
lande durchzusetzen (S. 447—448). über die Frage der Schiffahrts-
abgaben vereinigte Preußen zunächst alle Bundesratsstimmen bis
auf zwölf. Obwohl damit verfassungsmäßig der im Wege stehende
Artikel 54 der Reichsverfassung abgeändert werden konnte, zog es
die preußische Regierung doch vor, durch weiteres Entgegenkommen
gegenüber den Wünschen Badens. Sachsens und Hessens eine erfreu-
liche Einstimmigkeit des Bundesrats für den abgeänderten Gesetz-
entwurf zu erzielen. Die Einbringung eines Reichswertzuwachs-
steuergesetzes erfolgte bereits im Frühjahr 1910, obwohl der Reichs-
tag, als er die Finanzreform beschloß, den 1. April 1912 als Frist
für die Regierungsvorlage festgesetzt hatte. Das Arbeitskammer-
gesetz und die Reichsversicherungsordnung bedeuteten eine wesent-
liche Fortführung der Sozialpolitik. Von sehr weittragenden,
politischen Folgen könnte auch die von der Regierung vorgeschlagene