Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

Nebersicht über die politische Gutwichelung des Jahres 1910. 691 
Neuordnung der Strafrechtspflege werden, die den Reichstag schon 
im Januar beschäftigte. Dazu kam noch ein Reichsgesetzentwurf 
über den Vertrieb der Kalisalze, durch den ein Deutschland zu- 
gefallenes natürliches Monopol gegen falsche Ausbeutung und nutz- 
lose Vergeudung gesichert werden sollte. Mit diesen weitschichtigen 
Regierungsvorlagen war dem Reichstag für den Rest seiner Legis- 
laturperiode ein reichhaltiges Arbeitsprogramm gegeben. Um es 
bewältigen zu können, arbeiteten zwei Kommissionen, die über die 
Reichsversicherungsordnung und über die Strafprozeßordnung, auch 
in der Zwischenzeit der beiden Sessionen während der Monate 
Mai bis November. Auch der Gesetzentwurf über die Schiffahrts- 
abgaben ging nach einer lebhaften Debatte, bei der namentlich 
die badischen und elsaß-lothringischen Abgeordneten die Interessen 
ihrer Landesteile geltend machten, an eine Kommission von 28 Mit- 
gliedern. 
Keine von diesen Aufgaben, mit denen sich das Parlament 
und die Presse sehr eingehend beschäftigten, war geeignet, den Gegen- 
satz der Parteigruppen, wie er sich bei der Finanzreform heraus- 
gebildet hatte, zu verschärfen. Der Reichskanzler hatte also ein 
gewisses Recht, eine Sammlung und versöhnliche Detailarbeit als 
die Forderung der innerpolitischen Lage von den Parteien zu ver- 
langen. Er hütete sich wohl, den Termin der neuen Reichstags- 
wahlen, die man vielfach schon für den Herbst 1911 erwartete, 
anzudeuten, oder gar eine Wahlparole auszugeben, an die der 
Parteikampf um die Zukunft anknüpfen konnte (S. 344, 346). 
Es war deshalb eine Überraschung, daß im Juni einige der wich- 
tigsten Staatsämter in Preußen und dem Reich mit neuen Männern 
besetzt wurden. Als der Minister des Innern v. Moltke und der 
Landwirtschaftsminister v. Arnim gingen, legte die „Nationalliberale 
Korrespondenz“ dies als ein Symptom aus, daß der Reichskanzler 
nunmehr gewillt sei, „einen einseitig-konservativen Kurs zu steuern“ 
(S. 328). Aber da wenige Tage darauf auch der Finanzminister 
Freiherr v. Rheinbaben, der die engste Fühlung mit den Konserva- 
tiven hatte, seinen Posten mit dem eines Oberpräsidenten der Rhein- 
provinz vertauschte und der Oberbürgermeister von Magdeburg 
Dr. Leutze an seine Stelle trat, erwies sich diese Diagnose als un- 
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