Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

356 Greibritannien. (Juli 22. 26.) 
22. Juli. Kommentare der Presse zur Rede Lloyd Georges. 
„Daily Chronicle“ bringt einen Artikel mit der Ueberschrift 
„Britannien warnt Deutschland“. — „Morning Post“" zieht folgendes Fazit: 
„Die englische Regierung muß Frankreich versichern: Machen Sie, was Sie 
für recht halten, England wird mittun!“ — Die „Westminster Gazette“ 
schreibt: Der Schatzkanzler Lloyd George befliß sich in seiner gestrigen Rede 
größter Versöhnlichkeit und sagte nichts, was irgendwelchen Einspruch gegen 
einen billigen Ausgleich andeutete, der hoffentlich auch eintreten werde. 
Die Rede ist ein Hinweis darauf, daß wir treu zur Entente stehen, aber 
eigene Interessen haben, die wir bei jedem Marokko-Ausgleich berücksichtigt 
haben wollen. Alle liberalen und konservativen Blätter stimmen 
darin überein, daß die Rede eine Kundgebung des ganzen Kabinetts und 
eine Drohung gegen Deutschland sei, falls dieses in der Marokkofrage 
England als „quantité négligeable“ behandeln wollte. 
22. Juli. (London.) Sir Percey Bunting, Herausgeber der 
„Contemporary Review“, 1 75 Jahre alt. 
24. Juli. (Unterhaus.) Tumult bei der Beratung der vom 
Oberhaus abgeänderten Vetobill. 
Bei der Einführung des Antrages, die Veränderungen abzulehnen, 
wurde Premierminister Asquith durch fortwährende Gegenrufe der Oppo- 
sition am Weitersprechen verhindert. Balfour erwiderte u. a.: „Asquith 
7 dem Souverän geraten, sich zum absoluten Diktator zu machen. Asquith 
atte sich selbst Vollmachten angemaßt, die kein republikanischer Diktator 
besessen, und er hatte sich und seine Partei über die Verfassung gestellt.“ 
Darauf beantragte der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Sir 
Edward Grey, Vertagung der Debatte, indem er erklärte, wenn die Aus- 
führungen des Premierministers nicht gehört würden, würde kein anderer 
Minister den Versuch machen, seinen Platz einzunehmen. Als der Sprecher 
die Sitzung vertagte, erschallten Rufe wie „Feigling“ und „Verräter“ 
gegen Asquith. 
Der König hatte zunächst mit Balfour und Lord Lansdowne und 
darauf mit Asquith eine Besprechung über die Lage. 
25. Juli. Kritische Entwickelung der Marokkopolitik. 
Zu den Beratungen im Auswärtigen Amt über Englands Stellung- 
nahme zu den deutsch-französischen Verhandlungen wird der Botschafter in 
Paris Sir Francis Leveson Bertie zugezogen. Gleichzeitig erregt eine 
Ankündigung der Direktoren von Lloyds Aufsehen, daß nach fünfzehn 
Tagen das Kriegsrisiko nicht mehr wie gewöhnlich in die Seeversicherung 
einbegriffen wird. 
25. Juli. (Oberhaus.) Zweite Lesung des Spionagegesetzes. 
Kriegsminister Haldane verteidigte die Verschärfung der Bestim- 
mungen. Er glaube nicht, daß Generalstäbe fremder Mächte ständig Spione 
nach England sendeten, doch meine er, daß eine große Anzahl eifervoller 
Leute begierig seien, Insormationen zu erhalten, mit welchen sie sich ihren 
Regierungen empfehlen möchten. 
26. Juli. Die „Daily News“ über die deutsch-franzöfischen 
Verhandlungen. 
Die Zeitung macht auf gewisse französische Preßstimmen aufmerksam, 
nach denen eigentlich England einer schleunigen Beilegung der Marokko-
	        
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