Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

Frankreich. (Juli 3.) 423 
dies die ungeheuerlichste Dummheit und schlimmste Unvorsichtigkeit. Denn 
wenn Deutschland den Vertrag bricht, indem es seine Landeskinder beschützt, 
so haben wir ihn längst gebrochen. Eine derart begründete Verwahrung 
unsererseits wäre unsinnig, und wir könnten sie nicht aufrecht erhalten. 
Die Wahrheit ist, daß Deutschland zeigen wollte, es lasse sich vom Possen- 
spiel unserer Kolonialen nicht narren. Wir sind jetzt vor dieses Dilemma 
gestellt: entweder wir schreiten zur Aufteilung Marokkos mit allen Mächten, 
die zugreifen wollen, mit Spanien, Deutschland und anderen, und schaffen 
eine dauernde Gefahr für Frankreich und den Frieden, ober wir geben 
frei und ohne Hintergedanken die verbrecherische und blinde Politik auf, 
die befolgt worden ist, greisen wirklich auf den Algecirasvertrag zurück, den 
wir zuerst gebrochen haben, und begründen den Frieden auf Ehrlichkeit, 
Vorsicht und Recht. Außer diesen Lösungen gibt es, ich sage es mit Kummer 
und Zorn, nur Abenteuer und Demütigungen. Es darf kein einziger Fehler 
mehr begangen werden!“ 
„Matin“ sucht sich zu überreden, daß Deutschland auf Frankreich 
nur einen Druck ausüben will, um es zu Unterhaltungen über Entschädi- 
gungen geneigt zu machen, daß Deutschland bereit ist, Frankreich allen 
politischen Einfluß auf Marokko zu lassen, wenn dafür Deutsch-Ramerun auf 
Kosten des französischen Kongos ein wenig abgerundet würde. — Im 
„Figaro“ empfiehlt der Redakteur für auswärtige Politik, Frankreich solle 
Deutschlands Maßregeln unverzüglich damit beantworten, daß es gleichfalls 
ein Kriegsschiff nach Agadir schickt. Es ist das einzige Blatt, das diesen 
gefährlichen Weg der Trotzpolitik betreten zu sehen wünscht. Alle anderen 
enthalten sich derartig unvorsichtiger Ratschläge. — „Petite République“ 
sieht in dem deutschen Schritt die Wiederaufnahme der Politik des Fürsten 
Bülow vom Jahre 1904 und 1905, die die gefährlichste Krise heraufbeschworen 
hat, durch die Frankreich und der europäische Friede seit der Schnäbeleaffäre 
hindurchgegangen sind. — „Action“" hält einen Zusammenstoß zwischen 
Deutschland und Frankreich wegen Marokkos für unmöglich. „Kommt es 
zum Streite, so geht er ganz Europa an und würde von ganz Europa ge- 
schlichtet werden.“ — „Excelsior“ schreibt: Unsere unverzeihliche Schwäche 
gegenüber Spanien war die beste Ermutigung gegenüber Deutschland. Der 
Sultan von Marokko wird zweifellos gegen die deutsche Landung in Marokko- 
Einspruch erheben, aber wenn wir seinen Einspruch nicht unterstützen, dann 
wird er vergeblich bleiben. — Das Gewerkschaftsorgan „La Bataille 
Syndicaliste“ warnt die Regierung vor tragischer Uebereilung, da die 
ganze Arbeiterklasse sich mit allen Mitteln einem Regierungs= und Kapita- 
listenverbrechen widersetzen würde. — Der „Eclair“ sagt: Deutschland, 
welches für den Augenblick korrekt bleibt, hegt weniger unschuldige Hinter- 
gedanken. Es will sich am Atlantischen Ozean festsetzen, um die Mittel an 
der Hand zu haben, uns unaufhörlich Schwierigkeiten zu schaffen und unseren 
Einfluß zu behindern. Die Ostgrenze genügt uns. Wir brauchen keine 
afrikanische Grenze zwischen uns und Berlin. 
3. Juli. (Kammer.) Wahlrechtsvorlage. 
Das Amendement Dumenilt, wonach die Mitglieder der Deputierten- 
kammer durch Listenwahl mit Minderheitsvertretung gewählt werden sollen, 
wird mit 566 gegen 4 Stimmen angenommen. 
3. Juli. Das Altersversorgungsgesetz tritt in Kraft. 
In vielen Orten finden Arbeiterversammlungen statt, in denen be- 
schlossen wird, die Beitragszahlung zu verweigern. In Troyes kommt es 
zu Zusammenstößen mit dem Militär. (Vgl. 8. Juli.)
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.