Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

frankreich. (Juli 21., 22.) 427 
bare Entschädigungsforderungen aufgestellt. Deutschland verlange 
nichts weniger als die Kongoküste samt Libreville und läßt Frankreich nur 
den größten Teil des Hinterlandes. Auf Herrn Cambons Bemerkung: 
„Welchen Zugang zum französischen Kongo hätten wir und wie würden 
wir aus dem Lande herauskommen?“ habe der deutsche Minister geantwortet: 
„Durch eine zu bauende Eisenbahn“. Natürlich habe Herr Cambon diesen 
Anspruch entschieden zurückgewiesen, worauf Herr v. Kiderlen-Wächter ver- 
sprochen haben soll, die Meinung des deutschen Kolonialstaatssekretärs 
einzuholen. 
21. Juli. Marineminister Delcassé verbietet dem Arbeiler- 
delegierten Lamarque, der im Arsenal beschäftigt ist, die Reise nach 
Berlin zum „Internationalen Arbeiterkongreß“. 
21. Juli. „Matin“ erfährt, Herr v. Kiderlen-Wächter habe sich 
beim Botschafter Cambon darüber beklagt, daß über ihre vertraulichen 
Unterhaltungen in der franzößischen Presse Berichte erscheinen. 
22. Juli. Im „Matin“ bespricht der Exminister Senator 
Pierre Baudin das Gerücht, daß Deutschland die Abtretung des 
ganzen französischen Kongo und das Vorkaufsrecht auf den belgischen 
Kongo verlange: 
„Sollte in der Tat Herr v. Kiderlen-Wächter in seinen Ansprüchen 
so weit gehen, dann hätten wir kein Recht, die Unterhaltungen weiter fort- 
zusetzen. Wir könnten es nicht nur nicht im Hinblick auf unsere eigene 
Würde, sondern auch weil unsere Ehrlichkeit England gegenüber es uns 
verbieten würde. Wie könnten wir einwilligen, einen Vorschlag zu prüfen, 
der die Anstrengungen der englischen Politik in ihrer geradesten und stetigsten 
Linie brechen würde? Seit 25 Jahren hat England sich die Aufgabe gestellt, 
das Kap mit Kairo durch eine englische Bahnlinie zu verbinden. Es hat 
zu diesem Zwecke große Interessen geopfert. Es hat namentlich zweimal 
Deutschland ansehnliche Vorteile bewilligt, und zwar gegen uns, da es von 
der fixen Idee hupnotisiert war, sein Gegner sei immer noch Frankreich. 
Dieser Politik verdankt Deutschland seine prächtige Kolonie Ostafrika und 
sein Gebiet am Niger und am Ischad. Vorausgesetzt, wir wären selbst 
geneigt, all die Opfer zu vergessen, die uns die Erforschung des Kongo 
gekostet hat und für zweifelhaften Gewinn die bestimmten Ergebnisse auf- 
zugeben, die wir dort erlangt haben, so könnte sich doch England seiner- 
seits nicht darauf einlassen. Das ist so einleuchtend, daß man verblüsft ist, 
zur Aufstellung dieser Möglichkeit gezwungen zu sein. Wenn die deutschen 
Zeitungen die Dolmetscher einer ernsten Absicht ihrer Regierungen sein 
würden, so hätte man das Recht, den Verdacht zu fassen, daß sie den 
surchtbarsten Zusammenstoß in die Wege leiten. Es ist besser, sie dessen 
unfähig zu glauben.“ 
22. Juli. Der Jubel der Presse über die Rede des englischen 
Schatzkanzlers Lloyd Georges. 
Der „Temps“ meint, Lloyd George habe durch seine unzweidentige 
Erklärung die deutsche Regierung auf die Gefahren aufmerksam machen 
wollen, welche eine Politik des Bluffs und der Einschüchterung nach sich 
ziehen könnte. — Das „Journal des Dôbats“ schreibt: Oberflächliche 
Politiker haben behauptet, daß die Triple-Entente in Potsdam zerstört 
worden sei. Man könne aber sehen, daß der die Mächte der Triple-Entente
	        
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