Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

Frankreich. (Dezember 19.) 451 
tinuität der französischen Mittelmeerpolitik und auf die Bedeutung einer 
Verständigung zwischen zwei großen Bölkern, die sich achten und im 
Interesse der Zivilisation verständigen könnten. (Beifall auf der äußersten L.) 
Das Abkommen bringe eine lange Auseinandersetzung zum Ende. Frank- 
reich habe seine Aktionsfreiheit für die auswärtige Politik wiedergewonnen, 
von der es an der Seite seiner Freunde und Verbündeten, von denen 
Frankreich in keinem Punkte sich zu trennen beabsichtige, einen fruchtbaren 
Gebrauch machen könne ohne Hintergedanken im Dienste des Weltfriedens. 
(Beifall.) Das andauernde Festhalten Frankreichs an seiner Friedenspolitik 
erleichtert mir zu erklären, wie man es anderweit zu wiederholten Malen 
getan hat, daß die beste und dauerhafteste Friedensbürgschaft in der starken 
Militärmacht liegt, gestützt auf unsere Freundschaften und auf unser Bündnis 
(lebh. Beifall) und besonders in der moralischen Stärke. Ohne Ehre gibt 
es weder große Völker noch große Siege. (Beifall.) Wenn Meinungs- 
verschiedenheiten und Parteikämpfe unvermeidlich und für unsere Politik 
heilsam sind, müssen wir in freiwilliger Selbstzucht alle unsere Kräfte für 
die auswärtige Politik und für die nationale Selbsterhaltung zusammenfassen. 
m übrigen ist uns das Land in seiner mustergültigen Haltung die festeste 
Stütze und der sicherste Führer gewesen.“ (Lebh. Beifall auf fast allen Bänken.) 
Caillaux wird von allen Ministern und vielen Deputierten beglück- 
wünscht, wie er zu seinem Platz zurückkehrt. 
19. Dezember. (Kammer.) Eine sensationelle Rede von 
Jaures über die Marokkofrage. 
Er kritisierte die Rede Caillaux' vom 18. Dez. und meinte, 
der große Fehler der marokkanischen Politik Frankreichs sei der gewesen, 
Deutschland ausschalten zu wollen. Deutschland mit seiner ungeheuren 
Entwicklung und seiner Bevölkerungszunahme sei genötigt, immer neue 
Absatzgebiete zu suchen. Das tragische Geschick Deutschlands sei, daß es 
immer zu spät gekommen sei, als der Seehandel und der Kolonialerwerb 
der Portugiesen, Spanier und Franzosen aufblühte. Seit 40 Jahren habe 
es in Europa keinen Krieg gegeben, und da müsse er sagen, daß die deutsche 
Diplomatie im Grunde genommen wesentliche Mäßigung gewahrt hat. 
(Widerspruch, Ruse: Agadir!) Keiner der großen Lenker Deutschlands, 
weder Bismarck noch die drei großen Kaiser, hätten geflissentlich Krieg ge- 
wollt. (Lauter Widerspruch.) Jaurêès fuhr fort: Durch die im Jahre 1904 
und 1905 unterzeichneten Marokkoverträge hat die französische Diplomatie 
die deutsche Empfindlichkeit verletzt, und durch die Ratifizierung des Ab- 
kommens vom 4. November dieses Jahres erkennt sie die Notwendigkeit an, 
Deutschland zu entschädigen. (Lärm.) Frankreich müsse sich die Zustimmung 
der Mächte zu dem Abkommen vom 4. November teuer erkaufen. Italien 
sei mit Tripolis abgefunden worden. Oesterreich-Ungarn wolle nur seine 
Zustimmung geben, falls es in Frankreich eine Anleihe aufnehmen könne. 
(Minister des Aeußern de Selves und Ministerpräsident Caillaux erklären 
diese Sätze kategorisch als unrichtig.) Jaurès fuhr fort, in den Augen der 
Sozialisten sollte die französisch-englische Entente das Vorspiel zu einer 
französisch= deutschen Entente sein. Wenn man der Entente cordiale eine 
Spitze gegen Deutschland geben wolle, müsse er entschieden protestieren, wie 
auch gegen die gefährliche Politik der Geheimverträge und er werde einen 
Antrag einbringen, um in Zukunft derartige Verträge unmöglich zu machen. 
Er müsse auch dagegen Einspruch erheben, daß Treu und Glauben in der 
internationalen Politik immer mehr schwinden. Oesterreich-Ungarn habe 
mit der Annexion den Berliner Vertrag verletzt. Italien habe sich mitten 
im Frieden, ohne den Schatten eines Vorwandes, auf Tripolis gestürzt. 
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