Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

466 Italien. (November 1., 5.) 
1. November. Die „Agenzia Stefani“ dementiert in be- 
stimmtester Weise die Nachrichten auswärtiger Zeitungen, nach 
welchen die Italiener in Tripolis ein wahres Gemetgzel angerichtet, 
Unterdrückungsmaßregeln ohne Unterschied ergriffen und Massen- 
morde an waffenlosen Arabern, Frauen und Kindern verübt hätten. 
Die Berichterstatter der „Times“, des „Daily Mirror“" und der 
Reuterschen Agentur halten aber ihre Behauptungen über die in der Oase 
von Tripolis begangenen Scheußlichkeiten der Italiener aufrecht. 
5. November. Offizielle Annexion von Tripolis. 
Die „Agenzia Stefani“ meldet: Der König hat heute früh nach- 
stehende Verfügung unterzeichnet: Auf Vorschlag des Ministerpräsidenten 
und des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten verfügen wir: Tripolis 
und Cyrenaika werden unter die volle und ganze Oberhoheit des König- 
reichs Italien gestellt. Die endgültigen Bestimmungen für die Verwaltung 
der genannten Gebiete werden durch beset festgelegt werden. Bis zur Ver- 
abschiedung dieses Gesetzes wird durch königliche Erlasse regiert werden. 
Vorttehende Verfügung wird dem Parlament unterbreitet werden, um Gesetz 
u werden. 
P Gleichzeitig wird eine Note des Ministers des Auswärtigen 
San Ginuliano veröffentlicht, die er an die italienischen Botschafter im 
Auslande gerichtet hat: „Rom, 5. November. Die Besitznahme der wichtigsten 
Städte von Tripolis und Cyrenaika, die andauernden Erfolge unserer Waffen, 
die überwältigenden Streitkräfte, die wir dort versammelt haben und die 
anderen, die wir uns noch anschicken, hinzusenden, haben jeden weiteren 
Widerstand der Türkei unwirksam gemacht. Um andererseits unnützem 
Blutvergießen ein Ende zu machen, ist es dringend notwendig, jede gefähr- 
liche Unsicherheit in der Stimmung der dortigen Bevölkerung zu zerstreuen. 
Daher sind durch ein Königliches Dekret Tripolis und Cyrenaika endgültig 
und unwiderruflich unter die volle und ganze Oberhoheit des Königreichs 
Italien gestellt worden. Jede andere, weniger radikale Lösung, die dem 
Sultan auch nur den Schatten einer nominellen Oberhoheit über die ge- 
nannten Provinzen gelassen hätte, hätte eine dauernde Ursache für künftige 
Zusammenstöße zwischen Italien und der Türkei gebildet, welche später 
verhängnisvollerweise selbst gegen den Willen der Regierenden in einem 
für den europäischen Frieden noch gefährlicheren Augenblick hätten aus- 
brechen können. Die von uns gewählte Lösung ist die einzige, welche end- 
gültig die Interessen Italiens und Europas und selbst der Türkei schützt. 
Ein auf dieser Grundlage unterzeichneter Frieden wird jede tiefe Ursache 
einer Meinungsverschiedenheit zwischen Italien und der Türkei beseitigen, 
und wir werden leichter in der Lage sein, unsere ganze Politik von dem 
großen Interesse geleitet sein zu lassen, das wir an der Aufrechterhaltung 
des territorialen status quo auf der Balkanhalbinsel haben, für deren 
Konsolidierung das Ottomanische Reich eine wesentliche Bedingung ist. 
Wir wünschen daher lebhaft, wofern das Verhalten der Türkei uns dies 
nicht unmöglich macht, daß die Friedensbedingungen soweit als möglich 
mit ihren legitimen Interessen und ihrem Prestige in Einklang stehen. 
Tripolis und Cyrenaika haben aufgehört, einen Teil des Ottomanischen 
Reichs zu bilden, aber wir sind heute geneigt, mit weitherziger Versöhn- 
lichkeit die Mittel zu prüfen, um auf die für die Türkei zweckmäßigste und 
ehrenvollste Weise die Folgen von unwiderruflich vollzogenen Tatsachen zu 
regeln. Sicherlich würde es uns nicht möglich sein, diese versöhnlichen
	        
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