Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

Algemeises. Internatisnale Konsresse. Biplematische u. sonstige Eunthälnnges. 589 
die folgenden Daten zur Geschichte der Entlassung des Kultur- 
kampfministers: Am 5. Dezember war Kaiser Wilhelm I. nach seiner 
Wiederherstellung von den durch das Nobilingsche Attentat erlittenen Ver- 
letzungen aus Wiesbaden nach Berlin zurückgekehrt und hatte die Regierungs- 
geschäfte wieder übernommen. Alsbald war der Kaiser auf die Erfüllung 
seines Herzens- und Gewissenswunsches: des Eintritts der Hofprediger Baur 
und Koegel in den Evangelischen Oberkirchenrat, zurückgekommen. Diese 
Hofpredigerfrage aber war es gewesen, die den Kultusminister Dr. Falk 
veranlaßt hatte, am 9. Mai 1878 sein erstes Entlassungsgesuch einzureichen. 
Jene hochorthodoxen Hofprediger hatten aus ihrer Gegnerschaft gegen ihn 
nie ein Hehl gemacht. Ihr Eintreten in das Kirchenregiment drohte einen 
unheilvollen Einfluß auszuüben auf die ersehnte ruhige Fortentwickelung 
der evangelischen Kirchenangelegenheiten, mußte auch auf das Gebiet der 
Schule von hemmendem Einflusse werden. Allen Vorstellungen des Ministers 
gegenüber blieb der Kaiser unzugänglich, erkannte aber anderseits nicht an, 
daß die Erfüllung dieses Wunsches für ihn einen Anlaß zum Rücktritt 
bilden dürfte. Eine Entscheidung fiel damals nicht. Die Attentate vom 
12. Mai (Hödel) und vom 2. Juni 1878 (Nobiling) machten es vollends 
unmöglich, auf Entscheidung zu dringen. Andere Umstände kamen hinzu, 
den Zweifel Falks zu stärken, ob er noch der richtige Mann am richtigen 
Platze sei. Am 7. Februar 1878 war Papst Pius IX. gestorben. Leo XlII. 
trat an seine Stelle. Unter ihm begannen die Unterhandlungen der Kurie, 
die deren Wunsch nach Frieden oder doch einem modus vivendi mit dem 
preußischen Staate vortäuschten, in Wahrheit die klug beobachtete Empfindung 
auszunützen trachteten, daß nach sechsjährigem „Kulturkampf“ eine Kampfes- 
müdigkeit der bisher den Minister stützenden Parteien einzutreten begonnen 
hatte. Nur zähe Ausdauer konnte Rom gegenüber zum Ziele führen. 
Wirtschaftliche Fragen hatten auf die Stellung der Parteien zur Regierung 
Einfluß geübt; die Nationalliberalen waren Gegner der Bismarckschen 
Steuerpolitik, vornehmlich des Tabakmonopols. Sie waren es auch, die 
bei den Verhandlungen über das auf Grund der Attentate zu schaffende 
Sozialistengesetz in scharfe Opposition traten. Der Gegensatz Bismarcks 
zu den Nationalliberalen wurde immer deutlicher. Um so mehr näherten 
sich die politischen Feinde Falks, Zentrum und Hochkonservative, einander, 
namentlich auf dem Gebiete der Schule, und auch dem Kanzler, dem Unter- 
stützung oder doch Entgegenkommen auch auf dem Gebiete der Finanzzölle 
in Aussicht gestellt wurde, in der Hoffnung auf die Beseitigung Falks. 
Das Gerede über dessen Rücktritt mehrte sich und stärkte die Opposition der 
Gegner, wie es die Anhänglichkeit der Freunde schwächte. Freilich von 
höchster Stelle, von Bismarck, vom gesamten Staatsministerium ward dem 
Minister die allgemeine Ueberzeugung entgegengebracht, daß er nicht aus- 
scheiden dürfe. Er gehöre zum staatlichen Bollwerk gegen Rom. Sein 
Rücktritt würde in der römischen Frage nach außen zu einen schwer schädi- 
enden Eindruck machen, die Früchte einer sechsjährigen, tapferen Politik 
in Frage stellen. Eine Herabsetzung des Ansehens des Staates Rom gegen- 
über würde die Folge sein, das ganze Ministerium würde zu Fall kommen, 
das Land in Verwirrung gestürzt, ja das Leben des Königs gefährdet 
werden. Das Bewußtsein seiner Pflichten gegen Land und König gab 
Falk die Kraft zu der mannhaften Rede vom 11. Dezember 1878 zum 
Windthorstschen, das Ordensgesetz betreffenden Antrage, einer Rede, die 
ihm erneut die Zustimmung aller Verständigen erwarb; gab ihm die Kraft 
der Selbstüberwindung seinem geliebten Könige gegenüber, die Kraft zum 
weiteren Ausharren. So gab er, sich damit den warmen Dank des Königs 
erwerbend, in der Hofpredigerfrage nach und vollzog am 1. Januar 1879
	        
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