Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

624 Nebersicht über die politische Entwichelmnus des Jahws 1911. 
sekretär v. Kiderlen-Wächter sehr energisch zurückweisen mußten 
(S. 247—49 und S. 381). Da gerade damals der deutsche Staats- 
sekretär sich gegenüber dem französischen Botschafter in Berlin über 
die Indiskretionen der Gegenseite beschwert und mit Abbruch der 
Verhandlungen gedroht hatte, so war tatsächlich eine gefährliche 
Krifis heraufbeschworen. 
Es war ein Glück für den Weltfrieden, daß von der pein- 
lichen Londoner Zwiesprache vom 21. Juli auch nicht die leiseste 
Andeutung in die Presse gekommen war,.“ als der Telegraph die 
abendliche Rede in Deutschland bekannt machte. So konnte es ge- 
schehen, daß in den deutschen Preßkommentaren vom 22. bis 
24. Juli die wahre Bedeutung der Provokation gar nicht erkannt 
wurde (S. 133 f.). Dagegen erblickte die gesamte englische Presse 
schon am 22. Juli in der Rede eine an Deutschland gerichtete War- 
nung und eine Zusage an Frankreich, daß England ihm treu bei- 
stehen werde (S. 356). Es war dafür von Wichtigkeit, daß Lloyd 
George diesen Teil seiner Rede abgelesen hatte und daher wahr- 
scheinlich eine Festlegung des Wortlauts durch das Kabinett erfolgt 
war; gerade die Reputation des Redners als Friedensfreundes gab 
dem Vorfall erhöhte Bedeutung. Die franzöfische Presse antwortete 
am 23. Juli mit begeistertem Jubel. Jetzt erst (25. Juli) kam der 
Ingrimm der Deutschen gegen diesen feindseligen Interventions- 
versuch der englischen liberalen Regierung allmählich auf. Viele 
„Politiker" fanden eine psychologische Erklärung dafür in dem 
Gerüchte, daß die Berliner Diplomatie eine ebenso höfliche wie 
dringende Anfrage Englands vierzehn Tage ohne Antwort gelassen 
habe. Daß diese Rücksichtslofigkeit tatsächlich nicht vorgelegen habe, 
stellte später v. Kiderlen-Wächter fest (S. 249); Sir Edward Grey 
konstruierte sich aber eine „Periode des Schweigens“ vom 4. (0) bis 
24. Juli (S. 380 f.). Die Frage bleibt offen, warum der englische 
Staatssekretär nach der Unterredung mit dem deutschen Botschafter 
nicht abgewartet hat, bis eine Antwort aus Berlin da sein konnte. 
*7 Um so ausführlicher, und ohne vorherige englische Zustimmung, 
erfolgte die Mitteilung davon in dem veröffentlichten Rückblick des deutschen 
Staatssekretärs vor der Budgetkommission des Reichstages am 17. November 
(S. 243 ff.).
	        
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