Äebersiht ũber die volitische Entwichelung des Jahres 1911. 625
Es war doch nichts verloren, wenn die durch Lloyd Georges Rede
beabsichtigte Kundgebung (vielleicht in anderer Form) drei Tage
später erfolgte. Die einzig mögliche Erklärung liegt in der Rück-
sicht auf die innere englische Politik; der 21. Juli war der Tag,
an dem die Regierung dem Führer der Opposition mitteilte, daß
der König auf ihren Rat sich bereit erklärt habe, durch einen Pair-
schub die Vetobill im Oberhause durchzubringen (S. 354). Die Ab-
lenkung der Aufmerksamkeit auf eine auswärtige Aktion im Sinne
der Opposition kam da sehr gelegen. (Siehe S. 636 f.) Natürlich
ist das niemals eingestanden worden.
Was aber auch das ausschlaggebende Motiv zu der englischen
Unfreundlichkeit gewesen sein mag, die deutsche Diplomatie ließ sich
nicht „verblüffen“. Sie verweigerte die von Grey erbetene Er-
mächtigung, dem Parlament von Deutschlands Verzicht auf marok-
kanisches Terrain Mitteilung zu machen, und betonte, daß die
englische Regierung, falls sie die politische Lage verwickeln und
verwirren wollte, kein geeigneteres Mittel hätte wählen können,
als die Rede des Schatzkanzlers. „Drohende Warnungen würden
Deutschland nur zum Festhalten an seinem Recht ermuntern“
(S. 250 f.). Die entsprechende Unterredung in London am 24. Juli
war nach Greys Bericht (S. 382 f.) „außerordentlich steif im Tone“;
beide Parteien fanden es „unvereinbar mit ihrer Würde“, Erklärungen
zu geben. Der Ernst der Situation kam in auffallenden Flotten-
bewegungen, im Tiefstande der englischen Konsols und im Aus-
schluß des Kriegsrisikos von der Seeversicherung (S. 356 f.) deutlich
zum Ausdruck. Aber gleichzeitig wies die liberale „Daily News“
darauf hin, daß England die Schritte Deutschlands und Frankreichs
mit verschiedenen Maßstäben messe, und am 27. erfolgte durch Reuters
Bureau eine Beschwichtigungsnote, daß England keinen aktiven
oder direkten Anteil an den Verhandlungen zwischen Frankreich und
Deutschland nehmen wolle (S. 357). Die Rede des Premierministers
Asquith im Unterhause am Abend des 27. Juli war von versöhn-
lichem Geiste getragen. Die diplomatischen Störungen der deutsch-
französischen Verhandlungen durch England hatten damit ihr Ende
erreicht. Vielleicht überredete der nach London berufene Botschafter
in Paris Sir Francis Leveson Bertie das Ministerium, das Gegen-
Europäischer Geschichtskalender. I. II. 40