Mebersicht über die politische Eutwichelnns des Jahres 1911. 635
des Budgetprovisoriums und zwang dadurch die Regierung, von
dem Notparagraphen 14 einen ausgiebigen Gebrauch zu machen
(S. 301, 302). In Ungarn warf sich die Opposition, die ihre
Sprachenforderung im gemeinsamen Heere nicht vollständig durch-
setzen konnte, auf die „technische Obstruktion“, die monatelang jede
parlamentarische Arbeit vereitelte.
Das Ministerium Bienerth trat nach dreimaliger Umbildung
am 26. Juni zurück, da nach dem Ausfall der Neuwahlen seine
Versuche zur Lösung des deutsch-böhmischen Ausgleiches noch hoff-
nungsloser wurden, als sie es vorher waren. Aber auch der wieder
mit der Bildung eines Kabinetts beauftragte Freiherr von Gautsch
reichte schon am 28. Oktober die Entlassung des Ministeriums ein.
Sein Nachfolger Graf Stürgkh gab von vornherein den Versuch
auf, eine „politische Majorität“ zu gewinnen. Skandalszenen im
Abgeordnetenhaus, an denen sich auch schon Damen beteiligten,
häuften sich im letzten Vierteljahr aufs bedenklichste.
Das stärkere Hervortreten des Thronfolgers in Regierungs-
angelegenheiten wurde auch mit dem Rücktritt des Kriegsministers
Freiherrn von Schoenaich (6. September) in Verbindung gebracht.
Die strikte Neutralität der Regierung im türkisch-italienischen Krieg
hatte den Beifall vieler Militärs nicht; der beliebte Generalstabschef
von Hötzendorf nahm ihretwegen seine Entlassung.
Portugal ging von der provisorischen Verwaltung zu der
verfassungsmäßigen Staatsform einer liberalen Republik über, für
die es die Anerkennung der Mächte fand. Die Monarchisten gaben
aber den Widerstand noch nicht auf, so daß das Land im Zustande
latenten Bürgerkrieges blieb. Durch einen Vertrag mit Spanien
konnte aber schließlich die Grenze besser gegen Überrumpelungen
gehütet werden als im ersten Halbjahr. Der Schwerpunkt der
spanischen Politik lag in den Verhandlungen mit Frankreich, um
die Rivalität des beiderseitigen Vorgehens in Marokko zu besänftigen.
Für Großbritannien stand bei Beginn des Jahres die
Frage der Einschränkung der legislativen Befugnisse des Oberhauses
noch immer im Mittelpunkte des parlamentarischen Kampfes. Der