Mebersicht üiber die politische Entwickelung des Jahres 1911. 639
Nächst Großbritannien hat von fremden Ländern im Kalen-
darium Frankreich am meisten Platz beansprucht.
Die Abbröckelung der ministeriellen Mehrheit wegen der
größeren Rücksichtnahme der Regierung auf alle staatserhaltenden
Tendenzen infolge der bedrohlichen Anzeichen von Desorganisation
in der zweiten Hälfte des Jahres 1910 veranlaßte Briand am
24. Februar, seine Entlassung zu nehmen. Damit verloren die von
ihm geplanten Reformen die Aussicht auf baldige Verwirklichung,
denn das neue Ministerium Monis beherrschte die Ressorts nicht,
an deren Spitze es gestellt war. Die Diebstähle im Auswärtigen
Amt (S. 413, 414, 417), die Geheimhaltung der Berichte Cambons
über seine Kissinger Unterredungen vor dem Premierminister und
Präfidenten der Republik (S. 454) beweisen zur Genüge die herrschende
Unordnung. Vor allem war dieses Ministerium zu schwach, dem
Drängen der Marokkointeressenten in Paris zu widerstehen, die im
„Temps“ ihr Organ und in Tardien ihren Publizisten hatten. Selbst
innerhalb des Ministeriums kam es darüber zu Mißhelligkeiten, die
nicht verborgen blieben (S. 417, 422). So fiel das Kabinett bei der
Erörterung der Frage, ob der Kriegsminister gesagt habe, im Kriegs-
falle sei ein Generalissimus nicht notwendig, am 23. Juni, dem Tage
des Eintreffens Cambons aus Kissingen. Das neue Ministerium
Caillaux glaubte anfangs, die Politik des Hinausziehens der Ver-
handlungen mit Deutschland fortsetzen zu können, wurde aber durch
die Entsendung des „Panther“ nach Agadir an die Dringlichkeit der
Angelegenheit gemahnt. Fast schien es im Juli, als ginge die Leitung
der französischen auswärtigen Politik in der Marokkofrage an die
sich energisch vorwagende britische Regierung über. Auch der Presse
gegenüber wurde bei dem Hin und Her der Berliner Verhandlungen
die Verschwiegenheit nicht gewahrt, die beide Parteien sich gegenseitig
zugesagt hatten. So wurden französische Zeitungen die erste In-
formationsquelle der öffentlichen Meinung Europas über die Fort-
schritte der Berliner „Konversationen“.
Die Spannung der politischen Lage während des Sommers
lenkte die Blicke auch auf die Kriegsbereitschaft des Heeres und der
Flotte, wobei von England ermutigende Urteile herübertönten. Delcafsé
war am 22. Juni sehr zuversichtlich (S. 421) und erklärte am 10. Sep-