Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 14.) 29
verhüllter Zuschuß des außerordentlichen Etats zum ordentlichen Etat. Ein
Teil dabei trägt direkt den Charakter der Defizitanleihe. Hier sieht man
deutlich den in unserer Entwicklung gemachten Fehler, der noch klarer
hervortritt, wenn man die Finanzen der Bundesstaaten heranzieht. In
den Bundestaaten ist das Rückgrat der Einnahmen in den Anlagen zu
finden, die nicht nur sich selbst verzinsen, sondern auch noch dem all-
gemeinen Haushalt Zubußen, zuführen. Weitaus an der Spitze stehen die
Eiienbahnen, auf die z. B. in Preußen 78 Prozent der gesamten Staats-
schuld entfallen, in Bayern 85 Prozent, in Sachsen 83 Prozent, in Württem-
berg 96 Prozent, in Baden 100 Prozent, in Hessen 82 Prozent, in Mecklen-
burg 69 Prozent und in Oldenburg 88 Prozent. Ganze anders im Reich.
Hier bilden das Haupteinnahmerückgrat die Zölle und Steuern mit 1600
Millionen, wogegen 4½ Ueberschüsse der Betriebsverwaliungen, auch dg
ienigen der Post, ganz erheblich in den Hintergrund treten. Im Reich
konn sich deshalb 2D — wie in den Bundesstaaten har anck
entwickeln. Unser Irrtum war aber, daß wir annahmen, bei jeder sich
bietenden Ge- und Verlegenheit in demselben Maße wie in den Bundes-
staaten Anleihen machen zu können. Die gesamten Reichs- und Staats-
schulden betrugen Anfang 1910: 19,3 Milliarden, davon nichtwerbender
Natur 7 bis 8 Milliaden und hiervon wiederum entfallen auf das Reich
4500 Millionen. Diese Entwicklung mußte zu Schwierigkeiten führen:
nicht ungestraft verletzt man die Gesetze der Volkswirtschaft. Eine
Uebersicht darüber, was die Bundesstaaten in diesem 40jährigen Zeitraum
dem Reich an Matrikularbeiträgen bar bezahlt haben, und was sie an
Überweisungen herauserhalten haben, ist das Bunteste, was die Finanzgeschichte
des Reiches aufzuweisen hat. In der ersten Zeit, bis 1879, bewegten sich
die Matrikularbeiträge der Bundesstaaten auf der Durchschnittshöhe von
64 Millionen, ein an sich nicht niedriger und im Verhältnis zu den da-
maligen Gesamtausgaben des Reiches hoher Betrag. Dann önderte sich
das Bild infolge der Zolltarifgesezgebung von 1879, infolge deren der
Betrag der Matrikularbeiträge herabsank. Von 1883 ab traten Mehrüber-
weisungen, ein, die von 1880 bis 1900 mit 140 Millionen ihren Höhepunkt
hatten. Leicht muß der damaligen Finanzverwaltung diese Auszahlung
nicht gefallen sein (Heiterkeit), und zwar besonders deshalb, weil gerade
sie in den Jahren 1887 bis 1889 eine Gesamtanleihe von 640 Minionen
anlegen mußte. Das klennzeichnet überhaupt die ganze Periode.
In der Zeit von 1883 bis 1893 haben die Bundesstaaten an Ueberweisungen von
dem Reich erhalten 612 Millionen, während gleichzeitig das Reich eine
Anleihe von 1915 Millionen kontrahierte Hört! hört), nicht zu bedenken
der Fehlbeträge, mit denen die betreffenden Elats abschlossen. Von 1898
ab suchte man mit der sogenannten Spannungstheorie zu erzielen, daß im
Verlauf der Jahre die Matrikularbeiträge und Ueberweisungen sich aus-
gleichen. Dann bildeten sich allmählich bestimmt bemessene Matrikular-
beiträge. Es war aber zunächst den Bundesstaaten unmöglich, mehr als
40 Pfennig pro“ Kopf zu zahlen, und man versuchte mit diesen Beträgen
so gut es ging auszukommen. Daraus entstand das System der gestundeten
Matrikularbeiträge. Es war dies eine Zeit der größtenen Unsicherheit für
das Reich und brachte auch den Bundesstaaten keineswegs die von ihnen
gewünschte Sicherheit. Die Matrikularbeiträge waren also eine Quelle
steter Unsicherheit für die Finanzen des Reichs und der Bundesstaaten, und
viele großen Ueberweisungen haben auch keineswegs den Bundesstaaten
notwendig zum Heile gereicht. Seit 1909 trat ein zwar nicht auf Gesetz
beruhender Beharrungszustand des Zuhalts ein, 80 Pfennig Matrikular-
beiträge pro Kopf der Bevölkerung in Ansatz zu bringen. Infolgedessen