Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtundzwanzigster Jahrgang. 1912. (53)

32 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 14. 15.) 
Die verichiedenen Kredite auseinanderzuhalten mag für die Heimat ganz 
angebracht sein; will man Genossenschaften in den Kolonien gründen, so 
ist ein Auseinanderhalten solcher Kredite für die erste Zeit nicht angängig. 
Da Hilfe dringend nottut, so muß die Regierung, der Staat einspringen. 
Eine Vorlage, zugunsten der Farmer in Südwest Gelder flüssig zu machen, 
vielleicht in Form einer Anleihe, sjoll demnächst an den Reichstag gehen. 
Aber die Verwendung der Gelder  soll nicht in Berlin bestimmt werden, 
sondern die Interessenten sollen in Gemeinschaft mit dem Gonverneur in 
Windhuk darüber bestimmen. Ich fürchte, daß wir die Gelder à fonds 
porda geben. Nun zu Deutsch.Ostafrika. Wenn man Herrn v. Rechenberg  
vorwirft, er stand den Wünschen der Farmer kühl gegenüber, so vergißt man, 
daß er es nur aus grundsätzlichen Bedenken gegen die Tätigkeit von  
Kleinsiedungen in Tropen war, nicht aber aus Uebelwollen gegen die Landwirt- 
schaft. Ich habe den Gonverneur angewiesen, 15000—20000 Mark aus 
den lGelsverwaltungsfonds für das Genossenschaftswesen flüssig zu machen. 
Sollte das Geld dort nicht zu haben sein, so will ich es  nötigenfalls  in der 
Budgetkomission fordern. Die Entwicklung der Landwirtschaft  in unseren 
Schutzgebieten liegt der Kolonialverwaltung am Herzen. 
Der Antrag des Berichterstallers sowie des Majors v. Busse werden 
angenommen. 
14. Februarar. (Sachsen-Koburg--Gotha.) Das Staats- 
ministerium erklärt sich für die Einführung des geheimen und di- 
rekten Wahlrechts unter gleichzeitiger zeitgemäßer Einteilung der 
Wahlkreise. 
15. Februar. (Reichstag.) Forksetzung der ersten Beratung 
des Etats. Erklärung des Reichskanzlers 
Abg. Dr. Front (Sd.): Wie das Präsidium zusammengeint ist, ist 
eine Frage der Zweckmäßigkeit. Unter normalen Verhältnissen müßte es 
mit Freude begrüßt werden, wenn eine grosse Fraktion sich bereit erklärt, 
bei der glatten Erledigung der Geschäfte mitzuwirken. Im Kaiserreich hat 
man vor einer Reihe von Jahren ausdrücklich eine neue Geichaftsstelle im 
Präsidium geschaffen, damit die Sozialdemokratie einen Platz bekommen 
sollte. Unser Bernerstoriier, der dort gewählt wurde, hat über das Haus 
Habsburg viel schärfer geurteilt, als über die Hohenzollern von der frei- 
konservativen „Post“ geurteilt worden ist. (Grosse Heilerleit und sehr richtig!)  
Ich sehe davon ab, mich weiter an die Konservativen zu wenden. Ich richte 
aber an alle übrigen Fraktionen des Hauses die ehrliche Biitte, mitzuwirken 
an unseren Vorichlägen. Wenn ich Ihnen unsere Anträge begründe, weise 
ich zunächst auf diesen Mittelweg hin. der die Parteien in zwei Teile teilt. 
Hier links außen die Vertreter von 7,5 Millionen Stimmen, da drüben rechts 
und im Zemrum die Vertretung von 4,5 Millionen Wählern. Herr 
Herr Graf Oppendorff ist in Fraustadt gewähll worden mit 6700 Stimmen, unser 
Parteifreund Zubeil in Charloltenburg mit 163100 Stimmen. Nun glaube 
ich, und das wird mir das Zentrum bestätigen, daß die Wähler in  
Fraustadt sehr kluge Wähler sind. Aber so viel mal klüger wie die Charlotten- 
burger sind sie doch nicht. (Große Heiterkeit“). Die Liberalen haben trotz 
ihrer drei Millionen „Stimmnen im ersten Wahlgang nicht mehr als vier 
Mandate errungen. Das ist doch ein unglaublicher Zustand, und hier muß 
Wandel geschaffen werden, entweder durch das Proportionalwahlsystem oder 
durch eine neue Einteilung der Wahllkeise. Unhaltbar ist die Bevorzugung 
gewisser Klassen im Heer und Beamtentum. Hier wollen wir Wandel schaffen
	        
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