Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtundzwanzigster Jahrgang. 1912. (53)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 16.) 37 
ein Titelchen von den Dogmen nachzulassen, was Klassenkampf und Kampf 
gegen den monarchischen Staat betrifft. Aber selbst wenn unter den 110 
Sozialdemokraten eine große Zohl von Revisionisten vorhanden ist, welche 
nicht den monarchischen Staat mit Gewalt durch die Republik ersetzen 
wollen, so konnen doch auch die Herren Revisionisten es nicht lassen, den 
monarchischen Sinn des Volkes zu untergraben. Auch sie predigen den 
erbitterten Kampf und diskreditieren so die Nation. Ich entsinne mich, 
vor einigen Jahren variierte der Abg. Heine, der ja wohl auch zu 
Revisionisten gehört, dem Abg. Junck gegenüber  das Wort aus der  
Antizone“: „Nicht zu lieben, zu hoffen sind wir da.“ Was durch einen solchen 
Terrorismus in den Köpfen angerichtet wird, das brauche ich nicht zu 
schildern. Sie, die eben aus dem  Wahlkampf zurückgekehrt sind, werden 
das besser wissen  als ich. Ich kann den Entschluß der Fortchrittspartei 
und die Vorgänge in der nationalliberalen Partei, deren Zeugen wir 
gewesen sind, nicht darauf zurückführen, sich die Sozialdemokratie 
gewandelt hat. (Mit starker Betonung): Was sich gewandelt hat, das 
ist der Liberalismus. Er ist weitert nach links gerückt. (Starker Beifall 
im 3. und bei den K., starker Widerspruch auf der linken Seite des 
Hauses: Ich leile ja den Eindnuck, den der Abgeordnete Payer soeben 
zum Ausdruck gebracht hat, daß gestern und heute hier im Hause alles 
ruhig zugegangen ist. Ich habe den dringenden Wunsch, daß auch in 
Zukunit sich alles ruhig abwickeln wird. Aber hier im Hause sitzen viele 
alte und erfahrene Parlamentarier — keinen gibt es unter ihnen, der 
schon einer derartigen unsicheren politischen Lage genübergestanden hätte, wie sie unter den Augen dieses Reichstages geschaffen worden ist. Wir haben es eben erlebt, daß der Liberalismus, der einst von Bennißlen und Richter geführt wurde, bereit war, dem Abgeordneten Nebel, der das Wort von der Todfeindschaft gegen den Staat geprägt hat,das höchste  
 
Amt zu übertragen, das der Reichstag zu vergeben hat (Beifall r.), und tatsächlich ist ja auch dann zum Vizepräsident ein Sozialdemokrat 
 gewählt worden, der die bekannten Worte gegen das Kaiserhaus ge- 
braucht hat. Meine Herren, ist das die Antwort auf die ruhige und 
vertrauensvolle Sprache der Thronrede sein? (Zustimmung r.) Nun wird 
wegen des Ausfalls der Wahlen eine neue Orientierung unserer Politik 
als nolwendig bezeichnet. Der Abgeordnete Payer hat gemeint, die 
Wahlen seien ein Verdikt über die Gesetzgebung der letzten beiden Jahre. 
Sehr richtig I.) Meine Herren, nennen Sie mir ein großes Gesetz, das 
während der letzten beiden Jahre zustandegekommen ist, ohne daß die 
Freunde des Abgeordneten Payer daran mitgearbeitet haben. Waren die 
Wahlen also ein Verdikt, so waren sie auch ein Verdikt über ihn und seine 
Freunde. Nicht die Gesetze der letzten Jahre, der Zwiespalt der bürger- 
lichen Parteien hat die Sozialdemokratie so stark gemacht. Der große 
Haufe der sozialdemokratischen Stimmzeitel dankt seine Entstehung dem 
Glauben an die Ungefährlichkeit der Sozialdemokratie. Sobald sie von 
großen Worten zu gefährlichen Taten schreiten würde, dann würde es 
anders werden. Das wissen die Sozialdemokraten auch, und deshalb 
haben sie auf  ihrem letzten Parteitage große Vorsicht beobachtet. Die 4,25 
Millionen, die sozialdemokratische Stimmzettel abgegeben haben, sind keines- 
weges Todfeinde des Staates. Die Regierung muß fest auf eigenen Füßen 
stehen. Die unsichere  allgemeine Lage soll dazu herhalten, der weiteren 
Demokratisierung unseres demokratischen Wahlrechts den Boden zu ebnen. 
Konstitutionelle Garantien werden gefordert, um die Grundlagen unserer 
Verfassung zu verschieben.  Zur Erfüllung beider Forderungen können wir 
die Hand nicht bieten. (Lebhafter Beifall r.) Meine Herren, es ist zu-
	        
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