Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Frankrich. (April 14. 16.) 651 
Beziehungen Frankreichs und Englands auf der einen und Rußlands und 
Englands auf der andern Seite sind so eng, daß es schließlich nicht erstaunlich 
wäre, wenn man zur Unterzeichnung eines Bündnisses gelangte. Zum 
wenigsten wünscht man dies ebenso aufrichtig in Petersburg als in Paris. 
Der Londoner Berichterstatter des „Temps“ telegraphiert am gleichen 
Tage: Die von einigen russischen Blättern veröffentlichte Meldung, wonach 
das Petersburger Kabinett der englischen Regierung vorgeschlagen hätte, 
die gegenseitige Entente in ein Bündnis umzugestalten, ist wohl übertrieben. 
Es ist möglich, daß in nichtamtlichen Gesprächen eine derartige Anspielung 
gemacht wurde, aber jedem, der England auch nur ein wenig kennt, muß 
der Gedanke an einen solchen Plan als etwas ganz Außerordentliches er- 
scheinen. Wenn England trotz der ausgezeichneten Beziehungen mit Frankreich 
und der Sympathien zwischen beiden Ländern sich stets geweigert hat, die 
Entente cordiale in ein Bündnis umzugestalten, so hat ein solches Bünd- 
nis, was Rußland anlangt, noch viel weniger Aussicht auf Erfolg. 
Eine demokratische Regierung, wie die englische, ist verpflichtet, der öffent- 
lichen Meinung Rechnung zu tragen. 
14. April. Wahlkundgebung des Prinzen Viktor Napoleon. 
Der Prinz richtet von Brüssel aus anläßlich der bevorstehenden 
französischen Kammerwahlen an den Vizepräsidenten des plebiszistischen 
Ausschusses General Thomassin ein Schreiben, das eine sehr scharfe Kritik 
des republikanischen Regimes enthält und als einziges Heilmittel die Revision 
der Verfassung und die direkte Wahl eines Staatsoberhauptes bezeichnet. 
Wenn die Franzosen sich wieder einmal auf den Namen Napoleon einigen 
sollten, würde er die hervorragenden Männer aller Parteien anrufen, um mit 
ihnen auf der Grundlage der Volkssouveränität eine Regierung fruchtbarer 
Tätigkeit und nationaler Bersöhnung zu gründen. 
16. April. Der „Temps“ und die „Times“ veröffentlichen als 
Festartikel zum zehnjährigen Bestehen des französisch-englischen Ein- 
vernehmens einen Aufsatz des Akademikers und Geschichtschreibers 
Lavisse, der in deutschfeindlichem Sinne die Bedeutung und die 
Aufgaben des französisch-englischen Einvernehmens in der inter- 
nationalen Politik und die Erweiterung des Dreiverbandes erörtert. 
Zum Schluß heißt es: Vielleicht wird man eines Tages, ohne den 
internationalen Frieden zu erschüttern, die empfindlichste Frage erörtern 
können, worauf in ihren Unterredungen anzuspielen die beiden am unmittel- 
barsten daran beteiligten Regierungen sich enthalten, die Frage, die die Haupt- 
ursache des Unbehagens in Europa ist, die deutsch-französische, aber ebenso 
europäische und weltpolitische Frage: die elsässische Frage. Dazu bemerken 
die „Daily News“: Wir können Herrn Lavisse versichern, daß die englische 
Nation trotz der Sympathien für die französische an ein militärisches und 
Marinebündnis nicht denkt und daß die bloße Anspielung auf ein derartiges 
Bündnis mit Rußland einen Sturm hervorrufen würde, der die Regierung, 
welche einen solchen Irrtum beginge, wegfegen würde. (Die Aeußerungen 
der „Times“ s. S. 531.) 
16. April. (Paris.) Ausstellung einer Kaiser Wilhelm-Büste. 
Der deutsche Bildhauer M. Bezner, der als früherer Preistäger das 
Recht hat, seine Werke juryfrei einzusenden, beabsichtigt, eine Büste Kaiser 
Wilhelms II. im diesjährigen Pariser „Salon“ auszustellen. Der Vorstand 
hält die Aufstellung wegen etwaiger chauvinistischer Zwischenfälle für nicht
	        
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