Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Fraulteiq. (Juli 26. —-27.) 673 
will. Das wäre das ungeheuerlichste Verbrechen. — Die radikale „Aurore“ 
schreibt: Die Kriegserklärung Serbiens wäre das Signal einer furchtbaren 
europäischen Katastrophe. — Der „Rappel“ sagt: Das von Oesterreich an 
Serbien gerichtete Ultimatum ist von einer unerbittlichen Strenge. Es stellt 
solche Bedingungen, daß man offen von einer regelrechten diplomatischen 
Herausforderung sprechen kann. — Der „Figaro“ schreibt: Es gibt noch 
einen allerdings schwachen Hoffnungsschimmer. Die österreichisch-ungarische 
Regierung präzisiert weder den Charakter noch die Grenzen ihrer Tueroen- 
tion bei der Kontrolle und Ausführung der von ihr geforderten Maßnahmen. 
Über die diplomatischen Verhandlungen vor Kriegs- 
ausbruch siehe den besonderen Abschnitt im „Anhang“. 
25. Juli. Hetzartikel des offiziösen „Echo de Paris“ gegen 
Deutschland. 
Den Besuch des deutschen Botschafters v. Schön im Auswärtigen 
Amt (am 24., s. den „Anhang") benutzt das Blatt, um in einem Leit- 
artikel einen besonders heftigen Ausfall gegen den Dreibund im allgemeinen 
und die deutsche Politik im besonderen zu machen. Das Blatt behauptet, 
aus bester Quelle erfahren zu haben, daß Herr v. Schön dem stellvertre- 
tenden Minister des Aeußern Bienvenu-Martin, eine Note vorgelesen habe, 
in der die deutsche Regierung erklärt: 1. daß sowohl Form wie Inhalt 
der österreichischen Note an Serbien von ihr gebilligt werden, 2. daß die 
Differenz zwischen Wien und Belgrad lokalisiert werde, 3. daß wenn eine 
dritte Macht intervenieren würde, eine schwere Spannung zwischen den 
beiden europäischen Mächtegruppen entstehen würde. Das „Echo de Paris“ 
knüpft an diese angebliche Information folgende Bemerkungen an: Dieser 
Schritt des deutschen Botschafters heißt mit anderen Worten: Wenn Ihr 
Oesterreich nicht Serbien zerschmettern laßt, so habt Ihr es mit Deutsch- 
land zu tun! Das ist die Drohung eines allgemeinen Angriffs auf die 
Tripleentente und die Aussicht auf einen Weltkrieg! Diese Wiederholung 
von Agadir ist mit dem größten Stillschweigen vorbereitet worden. 
26. Juli. Der „Petit Parisien“ veröffentlicht folgende an- 
scheinend offiziöse Beruhigungsnote: 
Man kann das Publikum nicht genug vor übereilten Handlungen 
warnen, die nicht mehr gut zu machen sind. Der augenblickliche Stand ist 
durchaus noch nicht der eines bewaffneten Konflikts, in den die Großmächte 
hineingezogen werden müßten. Man konnte sogar im Gegenteil noch gestern 
abend hoffen, daß der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen 
Oesterreich-Ungarn und Serbien nicht die Form eines bewaffneten Konfliktes 
annehmen würde. Wir wollen bis zur letzten Stunde auf die Geschicklich- 
keit der Diplomatie rechnen. Die Verhandlungen, die seit 48 Stunden ge- 
führt worden sind, sind noch nicht beendet, sondern dauern noch an. Gewiß 
ist die Lage sehr ernst, aber wenn man sie auch nicht mit einem lächer- 
lichen Optimismus betrachten darf, so darf man doch andererseits nicht zu 
schwarz sehen; denn ein solcher Pessimismus wäre erst gerechtfertigt, wenn 
die Regierungen ihre Ruhe verlören. 
27. Juli. Vorbereitende Maßnahmen für den Fall einer Mobil- 
machung. Die Manöver des XIV. Armeekorps werden abgebrochen. 
In Paris veranstalten die Syndikalisten Kundgebungen gegen den 
Krieg. 
Europäischer Geschichtskalender. LV. 43
	        
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