Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Ilalien. (Oltober 18. -23.) 727 
Reife des Urteils nötig, die erforderlichenfalls schnelles Handeln nicht aus- 
schließt, ift Kühnheit, nicht in Worten, sondern im Handeln, ist ein Geist 
nötig, der frei ist von jeder vorgefaßten Meinung, von jedem Vorurteil, 
von jedem Gefühl, das nicht das einer ausschließlichen und unbegrenzten 
Hingebung an unser Vaterland, einer geheiligten Selbstsucht im Dienste 
Italiens ist. 
18. Oktober. Zollermäßigung. 
Ein Regierungserlaß ermäßigt vom 20. Oktober 1914 bis 31. März 
1915 den Weizenzoll von 7,50 Lire auf 3 Lire, den Maiszoll von 1,15 Lire 
auf 50 Centesimi, den Roggenzoll von 4,50 Lire auf 2 Lire, den Haferzoll 
von 4 auf 2 Lire, den Zoll für Weizenmehl von 11,50 auf 5,25 Lire und 
den Zoll für Maismehl von 3,15 auf 2 Lire. 
20. Oktober. (Bologna.) Die Parteileitung der Geeinigten 
Sozialisten spricht von neuem ihre Abneigung gegen einen Krieg 
und den entschiedenen Willen, in der erklärten Neutralität fest zu 
bleiben, aus. 
Die von dem Direktor des „Avanti“, Prof. Mussolini, eingebrachte 
Tagesordnung, in der er erklärt, die von der Partei bisher verkündete 
Formel absoluter Neutralität sei zu verbindlich und dogmatisch gegenüber 
der internationalen Lage, die immer verwickelter und reicher an unvorher- 
gesehenen Ereignissen werde, die Partei müsse es sich daher vorbehalten, 
bei einem eventuellen Kriege die zukünftige Handlungsweise der Partei auf 
der Grundlage der Ereignisse festzusetzen, wird von keinem Mitgliede der 
Parteileitung angenommen. Infolge der Ablehnung seines Antrages tritt 
Mussolini von der Leitung des „Avanti“ zurück. 
23. Oktober. Eine russische Lockung für Italien. 
Der russische Botschafter Krupenski übermittelt dem Ministerpräsi- 
denten Salandra folgende Mitteilung seiner Regierung: In dem Bestreben, 
Italien einen Beweis seiner hohen Sympathie zu geben, hat der Kaiser 
von Rußland geruht, den Auftrag zu geben, vorzuschlagen, daß alle öster- 
reichischen Gefangenen italienischer Nationalität freigelassen werden, wenn 
die italienische Regierung sich verpflichtet, sie während der gesamten Kriegs- 
dauer zu bewachen, damit sie sich nicht zu den österreichisch-ungarischen 
Heeren zurückbegeben können. Salandra antwortet, daß er die sympathischen 
Absichten des Kaisers von Rußland hochschätze; doch mache er darauf auf- 
merksam, daß gemäß dem öffentlichen Rechte Italiens jeder Italiener oder 
Fremde, der auf italienischem Boden ankomme und kein Verbrechen be- 
gangen habe, frei sei, und daß seine Freiheit in keiner Weise geschmälert 
werden könne. Er sehe daher nicht, wie Italien die Verpflichtung eingehen 
könnte — natürlich um sie zu halten —, die von Rußland freigelassenen 
Gefangenen zu überwachen, um sie am Ueberschreiten irgendeiner Grenze 
zu verhindern. Er behielte sich auf jeden Fall auch in Anbetracht der von 
Italien zu beobachtenden Pflichten der Neutralität vor, die Rechtsfragen 
eingehend zu prüfen, die sich möglicherweise daraus ergeben könnten, und 
die zuständigen Abteilungen mit deren Studium zu beauftragen. 
Die Wiener Blätter besprechen ironisch das russische Angebot und 
äußern ihre Genugtuung über die korrekte und dabei elegante Art, mit 
der Salandra den Versuch Rußlands, die öffentliche Meinung in Italien 
aufzureizen, beantwortet habe. 
Einige Tage später erklärt der russische Botschafter dem „Corriere 
della Sera“, der Zar werde wahrscheinlich, um die Angelegenheit nicht in
	        
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