Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

802 Rußland. (Februar 13.) 
Volke für die Rüstung eines Volkes weist darauf hin, daß dieser Augen- 
blick nicht mehr fern ist. Von etwas kann man jedenfalls überzeugt sein, 
nämlich davon, daß diese Stunde dann eintreten wird, wenn wir sie am 
wenigsten erwarten. Jeder, dessen Herz um das Schicksal des Vaterlandes 
blutet, muß es wünschen, daß er dann, wenn diese entscheidende Stunde 
schlägt, Rußland in einer andern Stimmung antrifft als die, welche die 
entscheidende psychologische Ursache der Niederlage war, die uns im fernen 
Osten betroffen hat und auf deren Untergrund allein die stürmische Flut 
der von uns kürzlich durchlebten blutigen Unruhen ohne Aufhalten dahin- 
rollen und sich abspielen konnte. Was sehen wir denn in Wirklichkeit? 
Wenn man sich von dem offiziellen Optimismus freimacht, der auf der 
Theorie begründet ist, daß „alles wohlbehalten sei“, so sehen wir erstens 
— und dafür wollen wir Gott dem Herrn von ganzem Herzen danken —, 
daß das russische Volk noch heilig den Kultus des Kaisers und der kaiser- 
lichen Macht im Herzen hat, denn nur darin und immer wieder darin 
fand das russische Volk, wie uns die Geschichte lehrt, zu guter Letzt seine 
Rettung. Doch wir sehen es auch, daß der Bruch zwischen der Regierung 
und der Gesellschaft in demselben Maße immer mehr wächst, in dem die 
Tendenz immer klarer und klarer zum Vorschein kommt, allmählich die Be- 
deutung des großen Akts zunichte zu machen, der den Namen unseres aller- 
gnädigsten Herrschers in der Geschichte ebenso unsterblich machen wird, wie 
der vom russischen Volke gesegnete Name des Zarbefreiers es ist. Diese 
Tendenzen sind gefährlich, die Geschichte aller Völker und Zeiten lehrt uns, 
daß die Versuche, das Rad der Geschichte rückwärts rollen zu lassen, nie- 
mals von endgültigem Erfolg, aber stets von schweren verhängnisvollen 
Folgen begleitet gewesen sind. Die Geschichte aller Zeiten und Völker lehrt 
uns auch, daß eine wirkliche gefährliche Revolution nicht durch die uto- 
pistischen Forderungen eines extremen Radikalismus, sondern durch eine 
nicht rechtzeitige Erfüllung gemäßigter Wünsche der in der überwältigenden 
Mehrzahl stets wohlgesinnten gebildeten Gesellschaft, der obern Schicht jeder 
Nation geschaffen wird. Wir sehen, daß die erwähnten Tendenzen von 
Parteien unterstützt und inspiriert werden, die sich das Monopol der wahr- 
haft monarchistischen und spezifisch patriotischen Gefühle zuschreiben. Bei 
aller Achtung vor ihrer Aufrichtigkeit muß man sich wundern, daß diese 
Parteien sich keine Rechenschaft darüber ablegen, daß nur eine solche Politik 
den wirklichen Interessen des Monarchen und des Vaterlandes dienen kann, 
die die Herzen aller seiner Untertanen ihm zuwendet und nicht das dumpfe 
Gefühl der Unzufriedenheit im Lande verbreitet und an den Grenzmarken 
den zersetzenden Samen der nationalen Gegensätze, der Bosheit und der 
Verbissenheit ausstreut. Ich glaube, daß auch wohl kaum in Rußland ein 
denkender Mensch sich finden wird, der über die nächste Zukunft unseres 
Vaterlandes nachdenkt und es nicht instinktiv fühlen würde, daß wir — um 
einen Seemannsausdruck zu gebrauchen — vom Kurse abtreiben, vom 
Winde immer näher und näher dem sehr gefährlichen, klippenreichen Ufer, 
an welchem unser Staatsschiff zu zerschellen droht, zugetragen werden, wenn 
wir uns nicht entschließen, rechtzeitig das Ruder an Bord zu drücken und 
einen hellen und klaren und bestimmten Kurs einschlagen. Doch dieser 
Kurs darf nicht der Kurs eines lebensfremden Dilettantismus sein, der nicht 
der Wahrheit ins Auge zu sehen wünscht und sie vor den Augen des Mon- 
archen verdeckt, der selbsteingenommen die Lehren der Geschichte verachtet. 
Die höchsten gesetzgebenden und repräsentativen Institutionen im Reiche 
entsprechen ihrer hohen Bestimmung, wenn sie als feste Schanze gegen den 
Ansturm des sozialistischen und revolutionären Radikalismus dienen. Doch 
Kaiser und Vaterland dürfen von uns auch erwarten — von uns, die wir
	        
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