Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

806 Außland. (März 2.) 
Jahren, auf die es jetzt zurückblickt, bedeutet jener Zeitpunkt den niedrigsten 
Tiefstand von Rußlands Einfluß im Rate der europäischen Völker. Allem 
äußern Anschein nach hat es sich von den schweren Niederlagen der Jahre 
1904 und 1905 soweit erholt, daß die Regierung jetzt übersehen kann, 
wann sie mit Sicherheit wieder so nachdrücklich ihr Wort wird in die Wag- 
schale werfen können, wie sie es, auch unter der Androhung der ultima 
ratio, möchte. Vorweggenommen sei, daß heute Rußland nicht in der Lage 
ist, politische Drohungen mit Waffengewalt zu unterstützen. Ohne daß man 
sich den Ausdruck des Chefs der Abteilung für den nahen Orient im Mini- 
sterium des Aeußern, Fürsten Trubezkoi, zu eigen macht, Rußland kämpfe 
mit Schwertern aus Pappe, eine zur Agitation für Rüstungszwecke er- 
fundene Uebertreibung, wird man doch zugeben, daß es eine Torheit wäre, 
wenn die russische Diplomatie ihr letztes Werkzeug einsetzte, ehe es fertig 
geschmiedet wäre. Und das ist es jetzt noch nicht. Eine unmittelbare 
Kriegsgefahr droht also von Rußlandnicht, so sehr auch von fran- 
zösischer Seite mit dem russischen Säbel gerasselt wird. Ganz anders wird 
jedoch die politische Wertung der russischen Heeresmacht in drei bis vier 
Jahren ausfallen. Die Gesundung der Finanzwirtschaft und Hebung des 
Kredits, den übrigens Frankreich gegen deutschfeindliche militärische Ver- 
sprechungen immer gern gewährt, haben Rußland in einen vorwärtsstrebenden 
Kurs gebracht, dessen Ziel, wenn es ruhig weitersteuern kann, im Herbst 
1917 erreicht sein wird. Dann wird es in der Ostsee über zwei Geschwader 
mit acht, zum Teil freilich veralteten Linienschiffen, vier große und sechs 
mehr oder minder veraltete Schlachtkreuzer, sechs moderne geschützte Kreuzer 
und eine ganze Reihe veralteter kleiner Schiffe, 114 Torpedobootszerstörer, 
15 Torpedoboote und 25 Unterseeboote verfügen. Am Ausbau der Befesti- 
gungen am finnischen und bottnischen Meerbusen wird emsig und plan- 
mäßig gearbeitet, so daß von Pollangen an der deutschen bis Tornea an 
der schwedischen Land- und Wassergrenze Werke und Kanonen die Basis 
der schwimmenden Streitmacht bilden. Gern möchte man Schweden in das 
russische System der Beherrschung der Ostsee hineinziehen und fängt dies, 
wie schon häufig in der Geschichte der russischen Expansion, so erst jüngst 
wieder bei der Annexion der Mongolei, mit wirtschaftlichem Entgegen- 
kommen an. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß Rußland, das 
sogar den Wettbewerb Finnlands fürchtet, an einer Erleichterung der schwe- 
dischen Einfuhr durchaus nichts gelegen sein kann. In Schweden haben die 
besten Kenner Rußlands dessen wahre Absichten, Schweden aus seiner neu- 
tralen Stellung zugunsten Rußlands herauszulocken, und die hiermit für 
Schweden verbundenen Gefahren erkannt, und, um nicht zu unfreiwilliger 
Gefolgschaft gezwungen zu werden, zur Verstärkung der Befestigungen an 
der russischen Grenze ausgerufen. Die russische Aktion gegenüber Schweden 
erscheint jedoch im Gesamtbild der russischen äußern Politik sekundärer 
Natur, solange Schweden auf seiner Hut ist und daran denkt, wie be- 
gehrenswert Rußland ein eisfreier Hafen an der näördlichen Küste Skan- 
dinaviens seit langen Zeiten erscheint. 
Dasselbe Bild wie bei der Flotte bietet sich auch bei der Land- 
armee. Genaue Angaben über deren Ausbau fehlen. Die russische Presse 
ist durch neuerdings noch verschärfte, drakonische Gesetze verpflichtet, kein 
Wort über diese Vorgänge verlauten zu lassen. Im allgemeinen ist nur 
bekannt, daß an der Aufstellung von fünf neuen Armeekorps gearbeitet 
wird, die entsprechend der dreijährigen Dienstzeit in drei Jahren mit allen 
Reserveformationen mobilmachungsfähig sein werden. Die Ergänzung des 
Artillerie- und Kriegsmaterials wird in einem von den Lieferanten noch 
nie gesehenen Maßstabe betrieben, ohne auf die Fertigstellung der Riesen- 
 
	        
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