Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Pusland. (März 2.) 807 
werkstätten bei Zaritzin, im Herzen Rußlands, an der Wolga zu warten. 
Die Rückverlegung der seit Peter dem Großen in Petersberg angesessenen 
Industrie für die Armee läßt vermuten, daß man sie in dem Kriegsfalle, 
mit dem man rechnet, in Petersburg an einem gefährdeten Punkte sieht. 
Besonders schmerzlich hat man bei den mächtigen Kriegsgelüsten im Früh- 
jahr 1913 das Fehlen von Belagerungsartillerie empfunden. Nicht menschen- 
freundliche, christliche Friedensliebe, das Mäntelchen, das man vor Europa 
gern der jetzt noch bestehenden eigenen Schwäche umhängt, hat die russische 
Politik zurückgehalten, ihre Armee die deutsche und österreichische Grenze 
überschreiten zu lassen. Hätte man Kanonen gehabt, die deutschen Sperr- 
forts in Ostpreußen einzuschießen, so hätte der Wilnaer Oberbefehlshaber, 
General v. Rennenkampf, der damals auffallend oft in Petersburg weilte, 
gar zu gern das blühende deutsche Land jenseits der Grenze seinen Reitern 
zur Plünderung preisgegeben. Leider mußte man damit rechnen, daß die 
Kosaken vielleicht hier und da durchbrechen, sicher aber nicht wieder lebendig 
herauskommen würden. Der französische Bundesgenosse hat diesen Mangel 
besonders scharf erkannt. In drei Jahren werden die Belagerungsparks in 
Ordnung, die strategischen Bahnen in Polen, von deren Bau die große 
Eisenbahnanleihe, die letzte Tat Kokowzows, abhängig gemacht worden 
ist, gebaut sein. Heute ist noch nicht einmal die Trasse der strategischen 
Bahn von Kowno nach der Grenze fertig. Große Wandlungen sind in dem 
Personalbestande des russischen Offizierkorps eingetreten. Gebrechliche Greise, 
die gegen Japan noch Regimenter kommandierten, findet man in höheren 
Führerstellen nicht mehr. Die Altersgrenze für Divisionsgenerale ist 62 Jahre, 
ihr Durchschnittsalter jedoch nur 54. Die gleiche Verjüngung ist in allen 
Dienstgraden eingetreten und hat natürlich auf den Geist der Subaltern- 
offiziere zurückgewirkt. Was man davon gelegentlich sieht, ist Frische, gute 
Haltung und Kenntnis des Dienstes. Preußen hat sich in 6 Jahren von 
Jena erholt, warum soll man Rußland in 12 Jahren nicht die gleichen 
Erfolge zubilligen? Die russische Armee hat tüchtig gearbeitet, 
um die Scharte von 1904 auszuwetzen. 
Die Ansicht, daß die Gefahr innerer Erschütterungen die 
Schlagfertigkeit der Armee verringern könne, ist nur bedingt richtig. Sie 
verführt zu der falschen Anschauung, Rußland für jeden Fall für paralysiert 
zu erklären. Man sagt, der beste Beweis sei Rußlands Haltung im Balkan- 
krieg, wo es die günstige Gelegenheit ungenützt vorübergelassen, weil es 
die Revolution gefürchtet habe. Der Schluß ist falsch. Es hat die Gelegen- 
heit nur deshalb nicht genützt, weil es nicht fertig war, weil es nicht ohne 
militärisches Risiko losschlagen konnte. Die rote Gefahr kann nur dann 
drohend werden, wenn in einem unpopulären Kriege schwere Niederlagen 
erlitten sind. Einstweilen sorgt aber die Presse gründlich dafür, einen Krieg 
gegen die wegen ihrer ganzen Art an und für sich nicht beliebten Deutschen 
populär zu machen. Die Revolution 1905 gewann dadurch an Wirksamkeit 
auf die Regierung, daß die Gebildeten, in Rußland Intelligenz genannt, 
für sie mehr Sympathien als für die Regierung hatten. Diese Intelligenz 
sieht in Deutschland den Hort der Reaktion und deshalb ihren bestgehaß- 
testen Feind. Viele von ihnen haben zwar auf den deutschen Universitäten 
studiert, aber von dort nur einen verbissenen Haß gegen alles Deutschtum 
mitgebracht. Ein geistiges Bindeglied zwischen Rußland und Deutschland 
im Sinne bessern gegenseitigen Verstehens bilden diese Herren nicht. Fast 
unverständlich erscheint die Begründung der Kriegspropaganda in diesen 
Kreisen damit, daß sie nach einem siegreichen Kriege den Anbruch einer 
liberalen Aera in Rußland erhoffen. Durch ihre Haltung während des 
russisch-iapanischen Krieges sind sie krompromittiert, in den Augen der
	        
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