Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Ruhland. (Mãrz 2.) 809 
nur, ob er mit den Mitteln der mehr oder weniger konservativen Regierungs- 
politik gelöst werden wird. Bis jegt ist, allgemein von ganz Rußland ge- 
sprochen, von einem zufriedenen, kräftigen Bauernstand noch keine Rede, 
kann es auch bei der Kürze der Zeit noch nicht sein. Das der Bauernbank 
zur Arrondierung nötige Land ist aber schon ziemlich aufgebraucht, und 
man wird bald wieder, wie 1906, vor der Frage stehen: Soll man die 
Riesengüter unangetastet weiter bestehen lassen? Einstweilen haben diese 
ihre während der Revolution kurze Zeit bekundete Tendenz, wegen der Un- 
sicherheit des Landbesitzes Land an Bauern zu verkaufen, längst auf- 
gegeben, und Gutsbesitzer, die schon Hunderttausende Desjatinen besitzen, 
sind scharf hinterher, wenn sie nur 10 Desjatinen Bauernland dazu- 
kaufen können. Gewiß werden viele der jetzt durch die Auflösung der Ge- 
meinden freiwerdenden Kleinbauern sich mit der Zeit andern Berufen zu- 
wenden oder zu ländlichen Arbeitern herabsinken. Das geht aber nicht von 
heute auf morgen. Einstweilen hat also Rußland, so paradox es klingt, 
tatsächlich Mangel an Bauernland, so lange es eine seine Latifundien kon- 
servierende Politik treibt. Sicher wird auch Rußland einmal gezwungen 
sein, die rote Linie zu ziehen, über die hinaus Besitz an Land verboten 
ist und die seit den Tagen der Gracchen noch von jedem Staat, der aus 
stlavischen Zuständen herausstrebte, angewandt worden ist. Einstweilen liegt 
das aber in sehr weiter Ferne, und die Besitzer der größten Latifundien 
sind heute gleichzeitig die Führer einer nationalistischen Expansions- 
politik mit allen ihren Konsequenzen. Balaschow, der Führer der Natio- 
nalisten, hat 1¼ Millionen Desjatinen Land. Ein Beweis, daß es im 
europäischen Rußland bei der wenig intensiven Bodenbearbeitung zu eng 
wird, ist die faktische, wenn auch nicht staatsrechtliche Annexion der Mon- 
golei. Man würde für diese nicht für den kommenden Sommer schon einen 
ganzen Besiedlungsplan in Angriff nehmen, wenn man noch im Heimat- 
lande oder in Sibirien kolonisieren könnte. Daß der gewandte frühere 
Gesandte in Teheran, Poklewski-Koßjel, für sich die Ausnutzung eines 
Schnapsmonopols bei dem Autonomievertrag mit der Mongolei heraus- 
geschlagen hat, wirft ein grelles Schlaglicht auf die Art einflußreicher 
Cliquenmänner, das neuerworbene Land zu verbrauchen. 
Dieser extensive Länderverbrauch wird Rußlands äußere Politik 
noch lange beeinflussen und vermutlich zunächst im nahen Orient bis zu 
der von England zwischen Aegypten und Indien gezogenen Sperre südlich 
des Kaukasus in Persien und in der Türkei vorzudringen suchen. In 
diesen Gebieten liegt heute der Brennpunkt der russischen Politik. 
Daß es um der angeblich in Konstantinopel sich kreuzenden deutsch-russischen 
Interessen zwischen den beiden Mächten zu einem Zusammenstoß kommen 
werde, ist seit dem Berliner Kongreß den meisten Russen unbestreitbare 
Wahrheit. Mit der steigenden Entwicklung Südrußlands wächst das Un- 
behagen über den Verschluß der Dardanellen. Die soeben verkündeten Neu- 
bauten volkswirtschaftlicher Eisenbahnen zielen naturgemäß nach den eiefreien 
Häfen des Schwarzen Meeres, wo sie die Ernten der Bauern zum Welt- 
markt verfrachten können. Das Unbehagen über den Verschluß der Dar- 
danellen wird also in der russischen Bauernschaft in dem Maße wachsen, 
wie die Verkehrsadern mehr und mehr nach Süden weisen. Da ist es denn 
nicht schwer, Haß gegen den zu säen, der angeblich der wichtigste Hinter- 
mann der Türkei in dieser Wächterrolle ist. Hat Deutschland ein so wich- 
tiges Interesse daran, auf dem Verschluß der Dardanellen zu bestehen, daß 
es diesen gern mit der Popularisierung eines deutsch-russischen Krieges be- 
zahlen will? Wir glauben dies nicht. Deutschland ist nicht mehr interessiert 
als die meisten Signatarmächte, weniger jedenfalls als England. England
	        
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