Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

810 K#fland. (März 2.) 
liefert deshalb auch der Türkei Schiffe, Offiziere und Mannschaften für 
eine Flotte, die den verbrauchten Schiffen der Russen im Schwarzen Meer 
weit überlegen ist und ihnen jederzeit die Durchfahrt wehren kann. 
Für Rußlands amtliche Politik ist und bleibt als Hindernis für 
rückhaltlos gute Beziehungen zu Deutschland ihre Abhängigkeit von 
Frankreich bestehen. Im Falle Sanders haben ihre Leiter unter fran- 
zösischem Einfluß eine Nervosität an den Tag gelegt, die uns deutlich be- 
weisen muß, daß die korrekten Beziehungen keinerlei Belastungsprobe aus- 
halten. Sicher hat Herr Ssasonow einen schweren Stand gegen nationali- 
stische Kulissenschieber bei Hofe, aber auch er persönlich hat es an über- 
flüssigen Unterstreichungen des Zweibundes nicht fehlen lassen. Es unter- 
liegt keinem Zweifel, daß wenigstens die amtliche Führung der deutsch- 
russischen Beziehungen ein ganz anderes Gesicht bekäme, wenn die russischen 
Herren wüßten, daß sie künftighin nicht immer mit Entgegenkommen von 
deutscher Seite, sondern mit einem festen Willen zu rechnen hätten, daß 
das Angefangene unbedingt durchgeführt würde, unbekümmert um Nervo- 
sitären und Verärgerungen. Ein gut Teil dieser Nervosität und Verärgerung 
ist nichts als Bluff. Wie man vor zehn Jahren gegen Japan geblufft hat 
und mit einem Male — zu spät erschrak, als die andern Ernst machten, so 
blufft man jetzt bei jeder Gelegenheit gegen Deutschland. Da wird angeblich 
vertraulich, aber so, daß man es in Deutschland erfährt, von der geheimnis- 
vollen Verwendung der ersparten 300 Mill. geredet, da wird die Atmosphäre 
durch den Bluff eines Tripleentententribunals in London verdorben. Da 
werden Delcassé bei seinem Abgange Ehren erwiesen, als sei er der Lehr- 
meister Ssasonows gewesen, wird Poincarés Sommerreise mit einem Pathos 
umgeben, als hinge davon das Heil Europas ab. Wir wissen, woran wir 
sind. Einstweilen ist dies alles noch nichts als Blendwerk für die Zeit der 
Rüstung. Dieses Gebaren der amtlichen russischen Politik sollte aber endlich 
einmal die Legende von der geschichtlichen deutsch-russischen 
Freundschaft zerstören. Abgesehen davon, daß solche sentimentalen 
Schlagwörter in der Politik Unsinn sind, muß man die ganz andern Ver- 
hältnisse betrachten. Unter ganz andern dynastischen Beziehungen und zu 
Zeiten, als Persönlichkeit und Stellung des Monarchen in Rußland die 
allein entscheidende Stimme hatte, hat es gute preußisch-russische Beziehungen 
gegeben. Dieselben ohne sachlichen Grund auf die heutigen Verhältnisse zu 
übertragen, ist ohne jede innere und äußere Berechtigung. 
Die „Pol. Korr.“ bemerkt dazu offiziös (4. März): Es verdient 
ausdrücklich hervorgehoben zu werden, daß deutsche amtliche Kreise zu diesem 
Artikel in keiner Beziehung stehen und daß die Ansichten des Petersburger 
Vertreters des rheinischen Blattes an maßgebenden Stellen hier nirgends 
geteilt werden. Reichskanzler v. Bethmann Hollweg hat bekanntlich im 
vorigen Jahre bei den Verhandlungen über die Militärvorlage im Reichs- 
tage ebenfalls auf die Entwicklung des russischen Militärsystems hingewiesen, 
wie das natürlich und notwendig war. Den Fortschritten Rußlands auf 
militärischem Gebiete aber einen bedrohlichen Charakter speziell gegen 
Deutschland beizulegen, liegt keine Veranlassung vor. Von Paris aus wird 
übrigens schon die törichte Suggestion ausgestreut, es seien in nächster Zeit 
noch weitere derartige Artikel zu erwarten, um die Stimmung im Deutschen 
Reiche für einen Präventivkrieg reif zu machen. Einer solchen Frivolität 
ist in Deutschland niemand fähig, am wenigsten die Stellen, die vor ihrem 
Volke und vor der Geschichte die Verantwortung für die Entwicklung der 
internationalen Beziehungen zu tragen haben. Solche französische Ver- 
dächtigungen zeigen aber, daß gewissen Kreisen in Paris von denjenigen 
Publizisten eine unbeabsichtigte Hilfe geleistet wird, die ohne Not mit einem
	        
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