Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Rußland. (Dezember 9.—19.) 855 
habt habe, um den an die Regierung gestellten Anforderungen gerecht zu 
werden und das finanzielle Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Um die 
Ausgaben zu vermindern und das Geld für die Kriegsbedürfnisse zurück- 
zuhalten, habe er zahlreiche Kredite, welche für die Durchführung von 
Gesetzen betreffend eine Verbesserung des Wirtschaftslebens vorgesehen waren, 
nicht auf das Budget 1915 gesetzt. Er könne übrigens feststellen, daß die 
Einnahmen, die in den beiden ersten Kriegsmonaten eine sehr beträchtliche 
Verminderung erfahren hätten, wieder ein ständiges Anwachsen zeigten. 
Diese Tatsache gebe die Hoffnung, daß die durch den Krieg hervorgerufene 
Zerrüttung des Wirtschaftslebens nicht so schwer sein werde, wie man be- 
fürchtet habe. Die durch den Krieg notwendig gewordenen Ausgaben schätzt 
der Minister bis Ende Oktober alten Stils auf 1785 Millionen Rubel. 
Diese Ausgaben seien durch innere finanzielle Maßregeln (am 23. Aug., 
4. Sept., 14. Okt. und 16. Okt.) sowie durch die Aufnahme von 12 Millionen 
Pfund Sterling auf dem englischen Markte zur Bezahlung außerordent- 
licher Aufträge im Auslande gedeckt werden. Auf der Suche nach weiteren 
für den Krieg notwendigen Hilfsquellen werde die Regierung zu neuen 
Kreditoperationen ihre Zuflucht nehmen. Der Minister gibt seinem festen 
Zutrauen Ausdruck, daß der Abschluß von zu diesem Zwecke ausgenommenen 
äußern und innern Anleihen keine Schwierigkeiten machen werde. 
9. Dezember. Nach einer Meldung der „Nowoje Wremja“ 
hat die russische Regierung beschlossen, die Majorate aller deutsch- 
baltischen Adelsfamilien, von denen irgendein Mitglied im deutschen 
Heere dient, als Staatsbesitz einzuziehen. 
10. Dezember. Die Regierung bringt der neutralen Schiffahrt 
zur Kenntnis, daß die militärische Notwendigkeit sie zwingt, vor 
den russischen und türkischen Küsten und Häfen im Schwarzen Meer 
Minen zu legen. 
15. Dezember. Nach einer Meldung der „Nowoje Wremja" 
müssen die deutschen und österreichischen Untertanen, die Besitzungen 
in Rußland haben, diese binnen sechs Monaten verkaufen; andern- 
falls werden die Besitzungen öffentlich verkauft, und wenn ein solcher 
Verkauf nicht durchzusetzen ist, werden die Güter mittels der Bauern- 
bank enteignet. 
15. Dezember. (Finnland.) Aus Helsingfors wird die Ver- 
haftung von acht finnischen Landtagsabgeordneten gemeldet. 
Mitte Dezember. (Petersburg.) Verhängung des verstärkten 
Kriegszustandes infolge revolutionärer Unruhen. 
Die Niederlagen der russischen Armee in Polen werden von den 
Sozialisten zu einer heftigen Propaganda gegen den Krieg benutzt. Zahl- 
reiche Zeitungen werden von der Regierung beschlagnahmt, die sozialistischen 
Dumamitglieder und andere Parteiführer verhaftet. Auch wird die Peters- 
burger Universität geschlossen. 
19. Dezember. Der Führer der Kadettenpartei Schingareff 
kritisiert in der „Rjetsch“ das Budget für 1915.
	        
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