Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Anhang I. Biplenstische Perhandlungen. (Juli 30.) 1055 
Unterredung zwischen Herrn Schebeko und dem Grafen Berchtold, die ein- 
gehend die furchtbaren gegenwärtigen Schwierigkeiten erwogen haben, beide 
in gleich gutem Willen, ihnen durch beiderseitig annehmbare Lösungen zu 
begegnen. 
Die militärischen Vorbereitungen auf der russischen Seite, hat Herr 
Schebeko dargelegt, haben keinen anderen Zweck, als auf diejenigen Oester- 
reichs zu antworten und die Absicht sowie das Recht des Zaren kundzutun, 
bei der Regelung der serbischen Frage mitzusprechen. Die in Galizien ge- 
troffenen Mobilmachungsmaßnahmen, hat Graf Berchtold geantwortet, 
schließen ebensowenig eine aggressive Absicht in sich und bezwecken ledig- 
lich, den gegenwärtigen Stand der Dinge aufrechtzuerhalten. Von der 
einen wie von der anderen Seite wird man Sorge tragen, daß diese Maß- 
nahmen nicht als Zeichen der Feindseligkeit aufgefaßt werden. 
Zur Beilegung des österreichisch-serbischen Konflikts kam man überein, 
die Unterhandlungen in Petersburg zwischen Herrn Ssasonow und dem 
Grafen Szäpäry wieder aufzunehmen; wenn sie unterbrochen worden sind, 
ist es nur infolge eines Mißverständnisses geschehen, indem nämlich Graf 
Berchtold glaubte, der russische Minister des Auswärtigen verlange für 
den mit ihm verhandelnden Botschafter Vollmachten, die ihm gestatten 
würden, den Wortlaut des österreichischen Ultimatums abzuändern. Graf 
Szäpäry wird nur bevollmächtigt werden, darüber zu verhandeln, welches 
Uebereinkommen mit der Würde und dem Ansehen vereinbar wäre, die zu 
wahren die beiden Reiche in gleicher Weise besorgt seien. 
Unter dieser unmittelbaren und auf die beiden Meistbeteiligten be- 
schränkten Form würde daher vorderhand die Prüfung stattfinden, die nach 
dem Vorschlag Sir Ed. Greys den vier nicht direkt beteiligten Mächten an- 
vertraut werden sollte. 
Sir M. de Bunsen, der sich bei mir befand, hat sofort Herrn Sche- 
beko erklärt, daß das Foreign Office vollauf dies neue Vorgehen billigen 
werde. In Wiederholung seiner am Ballplatz abgegebenen Darlegung hat 
der russische Botschafter versichert, daß seine Regierung in weit höherem 
Maße, als man annehme, den Bedürfnissen der Monarchie Rechnung tragen 
werde; Herr Schebeko habe nichts versäumt, um den Grafen Berchtold 
von der Aufrichtigkeit des Wunsches Rußlands zu überzeugen, zu einer 
für die beiden Reiche annehmbaren Verständigung zu gelangen. 
Die Unterhaltung wurde in einem freundschaftlichen Tone geführt 
und gestattete zu glauben, daß nicht alle Hoffnung verloren sei, den Kon- 
flikt zu lokalisieren, als die (falsche) Nachricht von der deutschen Mobil- 
machung nach Wien gelangte. 
(Paris.) Präsident Poincaré äußert sich gegenüber dem bri- 
tischen Botschafter dahin, seiner Meinung nach könne der Krieg 
nur vermieden werden, wenn die britische Regierung erkläre, daß 
England Frankreich zu Hilfe kommen werde, da Deutschland dann 
sogleich sein Verhalten ändern würde (EB 99). 
(Berlin.) Abends. Der deutsche Reichskanzler gibt dem 
Wiener Kabinett aufs neue dringend zur Erwägung, Greys Ver- 
mittlungsvorschlag (s. S. 1047) anzunehmen (EB 108, 112). 
Reichskanzler von Bethmann Hollweg an den deutschen 
Botschafter in Wien: Falls die österreichisch-ungarische Regierung jede 
Vermittlung ablehnt, stehen wir vor einer Konflagration, bei der England
	        
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