1068 Auhaong II. iplematische Enthällungen. (Januar 16.— Juli 2.)
Nr. 110. Baron Guillaume, Gesandter Belgiens in Paris, an
Herrn Davignon, Minister des Aeußeren. Paris, den 16. Januar 1911.
Herr Minister! Ich hatte schon die Ehre, Ihnen zu berichten,
daß es die Herren Poincaré, Delcassé, Millerand und ihre
Freunde gewesen sind, die die nationalistische, militarifsftische
und chauvinistische Politik erfunden und befolgt haben, deren
Wiedererstehen wir festgeftellt haben. Sie bildet eine Gefahr für
Europa — und für Belgien. Darin erblicke ich die größte Gefahr, die
heute den Frieden Europas bedroht, nicht als ob ich zu der Annahme be-
rechtigt wäre, daß die französische Regierung vorsätzlich den Frieden stören
will — ich glaube eher das Gegenteil —, sondern weil die Haltung des
Kabinetts Barihon meiner Ansicht nach das Anschwellen militaristischer
Neigungen in Deutschland hervorgerufen hat.
Die Kriegsgelüste der Türkei und das Gesetz über die dreijährige
Dienstzeit scheinen mir die einzigen Gefahren zu bilden, die den Frieden
Europas bedrohen. Ich glaube die Gefahren darlegen zu können, die die
gegenwärtige Heeresgesetzgebung der Republik in sich birgt.
Frankreich, durch den Geburtenrückgang geschwächt, kann nicht lange dos
System des Gesetzes über die dreijährige Dienstzeit ertragen. Die Anstren-
gung ist zu groß sowohl in finanzieller Hinsicht, wie im Hinblick auf die
persönlichen Lasten. Eine solche Anstrengung wird Frankreich nicht er-
tragen können, und was wird es tun, um aus der schwierigen Lage heraus-
zukommen, in der es sich befinden wird? Alle Welt stimmt darin überein,
daß die 50000 Mann, die das Amendement Vincent dem Kontingent hinzu-
gefügt hat, überflüssig und unnütz sind. Man sucht nach einem Miteel.
sich auf eine angemessene und eine elegante Art davon zu befreien; aber
was dann? Es ist nicht zu erwarten, daß, wenigstens für den Angenblic,
die Parteien und die Männer, die große Anstrengungen gemacht haben, um
das Gesetz über die dreijährige Dienstzeit zur Annahme zu bringen, zu
einer Umkehr in ihrer militaristischen Politik geneigt sein oder ihr gar wodl-
wollend gegenüberstehen könnten. Herr Caillaux hat gegen das Geses
über die dreijährige Dienstzeit gestimmt: die Zahl der Politiker, die ihn
unterstützen und seine Ansichten in dieser Hinsicht teilen, ist groß. Unter
dem Einfluß von hochstehenden Persönlichkeiten der Republik hat der Mi-
nisterpräsident versprochen, das Gesetz über die dreijährige Dienstzeit loval
durchzuführen; aber es ist wohl nicht übertrieben anzunehmen, daß er
ebenso wie seine Freunde im Inneren weiter daran denkt, die gegenwärtig
bestehenden Härten erheblich zu mildern. Herr Caillaux, der der eigent-
liche Ministerpräsident ist, neigt bekanntlich zu einer Annäherung an Deutsch-
land; er ist ein ausgezeichneter Kenner seines Landes und weiß, daß, ab-
gesehen von den politischen Führern, einer Handvoll Chauvinisten und von
Leuten, die ihre Gedanken und Neigungen nicht einzugestehen wagen, die
Mehrheit der Franzosen — Bauern, Kaufleute, Industrielle — nur wider-
willig die übermäßigen Ausgaben und persönlichen Lasten erträgt, die man
ihnen auferlegt.
Ich legte Wert darauf, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß wir
als Belgier sicherlich nicht den Sturz von Caillaux wünschen können. Dieser
der unter dem Titel „Die belgischen Gesandtschaftsberichte aus den Jahren
1905 bis 1914" erschienene, mit Namen= und Sachregister ausgestattete Er-
gänzungsband der Beck'schen „Chronik des Deutschen KRrieges“ (C. H. Beckssche
Verlagsbuchhandlung Oskar Beck, München). — Wir beschränken uns im
obigen Text auf einen Auszug des Wortlauts der prägnantesten Stellen
der Berichte aus dem Jahre 1914.