Auhang II. Biplemalische Enthälnusen. (Januar 16.—Juli 2.) 1073
zu schicken, um den italienischen Truppen den Weg zu verlegen. Das ist
möglich, aber ich glaube zu wissen, daß die französischen Behörden die
Aktion der italienischen Armee nicht hoch anschlagen, denn diese würde eine
beträchtliche Zeit zur Mobilmachung brauchen. Schließlich hört England
nicht auf, mit Deutschland zu kokettieren. Ich habe in der letzten Zeit nicht
erfahren können, was aus den deutsch-englischen Unterhandlungen über
Angola und Mozambique geworden ist; doch wäre es interessant, über
diesen Punkt Genaueres zu erfahren.
Unstreitig ist die französische Nation in diesen letzten
Monaten chauvinistischer und selbstbewußter geworden. Die-
selben berufenen und sachverständigen Persönlichkeiten, die vor zwei Jahren
sehr lebhafte Befürchtungen bei der bloßen Erwähnung von möglichen
Schwierigkeiten zwischen Frankreich und Deutschland äußerten, stimmen
jetzt einen anderen Ton an; sie behaupten des Sieges gewiß zu sein,
machen viel Aufhebens von den übrigens tatsächlich wirklich vorhandenen
Fortschritten, die die französische Armee gemacht hat, und behaupten sicher
zu sein, das deutsche Heer zum mindesten lange genug in Schach halten
zu können, um Rußland Zeit zu lassen, mobil zu machen, Truppen zu-
sammenzuziehen und sich auf seinen westlichen Nachbar zu stürzen. Ich
glaube, daß keines der beiden Länder ernstlich wünscht, das entsetzliche
Glücksspiel eines Krieges zu wagen; aber bei dem französischen Volks-
charakter steht immer zu befürchten, daß ein Zwischenfall in unglücklicher
Darstellung das Volk oder besser gesagt, die nervösesten, ja die minder-
wertigsten Elemente der Bevölkerung dahin führt, eine Lage zu schaffen,
die den Krieg unvermeidlich machen würde. Ein erfahrener und hoch-
gestellter Diplomat sagte neulich: „Wenn sich jetzt plötzlich eines
Tages ein ernster Zwischenfall zwischen Frankreich und
Deutschland ereignet, so werden die Staatsmänner beider
Länder sich bemühen müssen, ihm innerhalb der nächsten drei
Tage eine friedliche Lösung zu geben, oder es gibt Krieg.“
Eines der gefährlichsten Momente in der augenblicklichen Lage ist die
Rückkehr Frankreichs zum Gesetz der dreijährigen Dienstzeit. Sie wurde
von der Militärpartei leichtfertig durchgesetzt, aber das Land kann sie nicht
ertragen. Innerhalb von zwei Jahren wird man auf sie ver-
zichten oder Krieg führen müssen.
Nr. 116. Baron Guillaume, Gesandter Belgiens in Paris, an
Herrn Davignon, Minister des Aeußeren. Paris, den 9. Juni 1914. Herr
Minister! . . Die Preßkampagne zugunsten des Prinzips der drei-
jährigen Dienstzeit war in den letzten Tagen außerordentlich heftig.
Man griff zu allen Mitteln, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen,
und wollte dabei selbst die Person des General Joffre kompromittieren.
Auch den französischen Botschafter in Petersburg haben wir — gegen alle
Gewohnheit — eine für die Zukunft Frankreichs recht gefährliche Initiative
ergreifen sehen. Ist es wahr, daß das Petersburger Kabinett das Land zur
Annahme des Gesetzes über die dreijährige Dienstzeit gedrängt hat und
heute seine Aufrechterhaltung mit seinem ganzen Gewicht verlangt? Es
ist mir nicht gelungen, über diesen heiklen Punkt Aufklärungen zu erhalten,
aber er wäre von um so ernsterer Bedeutung, als die Männer, die die
Geschicke des Zarenreiches lenken, wissen müssen, daß die dem französischen
Volke zugemutete Anstrengung zu groß ist und nicht lange andauern kann.
Sollte sich daher vielleicht die Haltung des Petersburger Ka-
binetts auf die Ueberzeugung gründen, daß die Ereignisse nahe
genug bevorstehen, um sich des Werkzeugs bedienen zu können,
das es seinen Verbündeten in die Hand geben willo
Europäischer Geschichtskalender. LV. 68