1076 Tuhang II. Piplomatiscte Enthüllungen. (September 15.)
Ssuchomlinow, ein Mann, dessen Geldverlegenheiten in Petersburg sprich-
wörtlich sind. Gegen den Krieg traten Ackerbauminister Kriwoschein, Fürst
Trubetzkoj, der zuletzt an Stelle von Hartwig Gesandter in Belgrad war,
und bis zu einer gewissen Phase auch der Minister des Aeußeren Ssasonow
auf. Als sich die Situation zuspitzte, war es aber Ssasonow selbst, der
den Zaren in einem halbstündigen telephonischen Gespräch überredete, end-
lich Ernst zu machen. Der Kriegsminister Ssuchomlinow sekundierte dabei.
Es wurde dem Zaren auseinandergesetzt, daß seine Dynastie in Gefahr
schwebe. Daraufhin stellte der Zar zum vierten Male das Mobilisations-
dekret aus.
Ueber dieselben Vorgänge berichtet ein Mitarbeiter der „B. Z. am
Mittag“": Der 25. Juli war für Rußlands Geschick ein kritischer Tag
allererster Ordnung. An diesem Tage nämlich erschien Nikolai Nikolajewitsch
beim Zaren und stellte ihm im Namen der Großfürstenpartei ein Ultimatum:
entweder abdanken oder die Mobilmachungsorder unterschreiben. Ueber die
unerhört schroffe Form, in der diese Forderung dem Zaren gestellt wurde,
über die Heftigkeit, mit der die Auseinandersetzung stattfand, erzählt mon
sich die seltsamsten Dinge. Fest steht aber jedenfalls, daß der Zar am
25. Juli dem jetzigen Generalissimus die Mobilmachungsorder übergeben,
sich dann auf mehrere Tage in sein Zimmer eingeschlossen und weder Ssa-
sonow, geschweige denn den Kriegsminister vorgelassen hat. Am 27. Juli
konnte dann der russische Kriegsminister dem deutschen Militärbevollmäch=
tigten ehrenwörtlich erklären, es sei kein Mobilmachungsbefehl ergangen.
Am 29. Juli hat der russische Generalstabschef diese ehrenwörtliche Erklä-
rung wiederholt. Nun wissen wir ja, daß man ein russisches Ehrenwort
nicht auf die Goldwage legen darf; aber der Schein bleibt gewahrt, denn
weder der Kriegsminister noch der Generalstabschef haben am 27. oder
29. Juli den Zaren zu Gesicht bekommen, während die Mobilmachungs-
order sich schon am 25. Juli. in der Tasche des Generalissimus befand.
Damit wäre eine der Lücken in den über den Krieg veröffentlichten Weiß-
büchern geschlossen. Der Großfürst hat eben ohne Wissen und Willen der
anderen Instanzen dem Zaren am 25. Juli die Mobilmachungsorder nicht
etwa abgelistet, sondern abgetrotzt, abgezwungen, abgepreßt.
Auch die „Coburger Zeitung" bringt am 1. Oktober aus an-
geblich guter Quelle ähnliche Mitteilungen: In Zarskoje Selo haben in
den letzten Tagen des Juli zwischen dem Zaren und dem Großfürsten
Nikolai Nikolajewitsch heftige Auseinandersetzungen stattgefunden. Es muß
festgestellt werden, daß der Zar unter allen Umständen gewillt war, den
Frieden zu erhalten. So konnte er denn auch ehrlichsten Herzens noch am
31. Juli dem Deutschen Kaiser das feierliche Wort geben, daß „Rußland“
keinen Krieg wünsche. Mit dem Zaren hatten mehrere Großfürsten, denen
die behagliche Ruhe und das friedlich- sorglose Leben wertvoller ist als ein
Krieg mit sehr ungewissem Ausgang, ferner auch der Ackerbauminister
Kriwoschein, der sehr einflußreiche Fürst Trubetzkoj und nicht zulest die
Zarin alles versucht, die von dem egoistischen Großfürsten Nikolai Nikolaje-
witsch geführte Kriegspartei von den schweren Folgen eines kriegerischen
Konflikts mit Deutschland zu überzeugen. Inzwischen ordnete Nikolai
Nikolajewitsch ohne Wissen des Zaren die Mobilisierung der Armee
an. Er war es auch, der mit der ihm ergebenen Hofbeamtenschaft dafür
sorgte, daß der Zar noch mehr von der Außenwelt abgeschlossen und in
Unkenntnis über die wirklichen militärischen Zustände im Reiche erhalten
wurde. Als das russische Heer bereits den Vormarsch angetreten hatte. er-
zwang er vom Zaren mit der unwahren Behauptung, daß die Deutschen
bereits in Polen einmarschiert seien und deutsche Agenten eine Revolution