Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Anhang II. Diplemastische Euthüllungen. (Oktober 3. 15.) 1077 
zur Vernichtung des Zarentums und des ganzen Kaiserhauses angezettelt 
hätten, den Mobilmachungsbefehl, der dann auch — unser Gewährsmann 
sagt „schweren Herzens“ — erteilt worden ist. 
3. Oktober. König Alberts Schuld. 
„Von einer Stelle, die auf Grund ihrer amtlichen und persönlichen 
Beziehungen als wohl unterrichtet angesehen werden darf,“ gehen der 
„Frankfurter Zeitung“ folgende Mitteilungen zu: König Albert wurde 
von Paris aus für die Pläne Frankreichs und Englands gewonnen. Sein 
Vertrauter war in diesen Verhandlungen der belgische General Jungblout, 
der zwar deutscher Abstammung, aber ein großer Deutschenhafser ist. Von 
englischer Seite trat später Lord Curzon, der frühere Vizekönig von Indien, 
hinzu, auf dessen Besitzung sich zurzeit die belgischen Königskinder befinden. 
Sowohl in Paris als auch in London hatte König Albert zu verstehen ge- 
geben, daß er die politischen Ansichten seines Onkels Leopold hinsichtlich 
der Haltung Belgiens gegenüber Frankreich und England nicht teile und 
daß er sich seine eigene Kolonialpolitik zurechtgelegt habe. Hier setzen die 
englisch-französischen Versprechungen ein. Der König der Belgier hatte 
nicht geringe Mühe, sein Ministerium zu den „neuen“ Ansichten zu be- 
kehren. Das gelang ihm erst im Frühjahr 1914, wo mit Frankreich und 
England eine Art Militärkonvention geschlossen wurde. Zur selben Zeit 
versuchte König Albert als Agent der Tripleentente einen Bund der 
neutralen Europastaaten zu gründen, um den Dreibund, oder vielmehr 
Deutschland und Oesterreich-Ungarn vollständig zu isolieren. Holland wurde 
merkwürdigerweise zuerst mißtrauisch, und dieser Umstand ließ den ganzen 
Plan scheitern. Als Ende Juli 1914 die Situation sich sehr verschärft 
hatte, schreckte das belgische Ministerium vor der drohenden Verantwortung 
zurück. Hinter dem Rücken seines Ministeriums sandte daher König Albert 
die bereits mit Lord Curzon vereinbarte Depesche an den König von Eng- 
land mit der Bitte, die Neutralität Belgiens zu schützen. 
15. Oktober. Zur Vorgeschichte des Krieges. 
Das auf S. 412 erwähnte Schreiben eines Adjutanten eines 
russischen Großfürsten, das auf vertraulichem Wege zur Kenntnis 
eines deutschen diplomatischen Vertreters im Auslande gelangte, lautet: 
Anlage. 12./25. Juli. Petersburg. In Petersburg waren große 
Unordnungen unter den Arbeitern. Sie fielen sonderbar mit der An- 
wesenheit der Franzosen bei uns und mit dem österreichischen Ultimatum 
an Serbien zusammen. Gestern hörte ich von dem französischen Militär- 
agenten General de la Guiche, er habe gehört, daß Oesterreich an den 
Arbeiterunruhen nicht unschuldig sei. Jetzt kommt aber alles rasch zu nor- 
malen Verhältnissen, und es scheint, daß, von den Franzosen ermutigt, 
unsere Regierung aufgehört hat, vor den Deutschen zu zittern. Es war 
längst Zeit! Es ist besser, sich einmal klar auszusprechen, als sich ewig 
hinter den „professionellen Lügen“ der Diplomaten zu verbergen. Das 
Ultimatum Oesterreichs ist von unerhörter Frechheit, wie alle hiesigen 
Zeitungen einmütig sagen. Eben habe ich die Abendzeitungen gelesen. Gestern 
war Sitzung des Ministerrats; der Kriegsminister hat sehr energisch ge- 
sprochen und bestätigt, daß Rußland zum Kriege bereit sei, und die 
übrigen Minister haben sich voll angeschlossen; es wurde in entsprechendem 
Geist ein Bericht an den Kaiser fertiggestellt, und dieser Bericht wurde an 
demselben Abend bestätigt. Heute wurde im Russischen Invaliden eine vor- 
läufige Mitteilung der Regierung veröffentlicht, daß „die Regierung sehr 
durch die eingetretenen Ereignisse und die Absendung des österreichischen
	        
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