Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Übersicht 
über die politische Entwicklung des Jahres 1914. 
Die furchtbare Katastrophe dieses Weltkrieges, die dem Jahre Einleitung. 
1914 für alle Zeiten eine düstere, schicksalsschwere Bedeutung ver- 
leihen wird, ist nicht wie ein jähes Verhängnis über den Erdkreis 
hereingebrochen. Auch der optimistische Weltbetrachter konnte sich 
beim Jahresbeginn nicht mehr darüber täuschen, daß unheil- 
verkündende Wolken sich immer gefahrdrohender am politischen 
Himmel zusammenballten, und daß es nur eines geringfügigen An- 
lasses bedurfte, um ein Unwetter zu entfesseln, das die bestehende 
politische Ordnung bis in ihre Grundfesten erschüttern würde. Wohl 
hatte die Einheit der Großmächte die schwere Belastungsprobe, der 
sie durch die Liquidation der Balkankriege ausgesetzt war, noch ein- 
mal glücklich bestanden; aber dieses mühsam erzielte Einvernehmen 
konnte doch nur notdürftig die tiefen Interessengegensätze verhüllen, 
die in Wirklichkeit die Mächte in zwei feindliche Lager schieden, 
und die mit der unentrinnbaren Notwendigkeit geschichtlicher Tat- 
sachen auf einen kriegerischen Zusammenstoß hindrängten. Daß in 
den Krisen der letzten Jahre der Weltfriede gewahrt geblieben war, 
ist nicht der geflissentlich betonten Friedensliebe der Tripleentente, 
nicht der diplomatischen Geschicklichkeit Sir Edward Greys zu ver- 
danken, sondern allein der nüchternen Erkenntnis unserer heutigen 
Gegner, daß damals die eiserne Rüstung noch nicht völlig fertig 
geschmiedet war, mittels derer sie das mächtig aufblühende deutsche 
Reich zu überwältigen und zu seiner früheren politischen Ohn- 
macht herabzudrücken gedachten. Es ist heute einwandfrei erwiesen, 
daß spätestens im Jahre 1917 diese Vernichtungspläne verwirklicht 
werden sollten. Frohlockend hatte der „Matin“ bereits im Juli 1914 
(S. 671) auf die niederschmetternde Überlegenheit aufmerksam ge- 
macht, welche die erzbereite russische Armee bis zu jenem Zeitpunkte 
über alle europäischen Heere besitzen werde. Dann werde Rußland 
Europäischer Geschichtskalender. LV. 69
	        
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