Übersicht
über die politische Entwicklung des Jahres 1914.
Die furchtbare Katastrophe dieses Weltkrieges, die dem Jahre Einleitung.
1914 für alle Zeiten eine düstere, schicksalsschwere Bedeutung ver-
leihen wird, ist nicht wie ein jähes Verhängnis über den Erdkreis
hereingebrochen. Auch der optimistische Weltbetrachter konnte sich
beim Jahresbeginn nicht mehr darüber täuschen, daß unheil-
verkündende Wolken sich immer gefahrdrohender am politischen
Himmel zusammenballten, und daß es nur eines geringfügigen An-
lasses bedurfte, um ein Unwetter zu entfesseln, das die bestehende
politische Ordnung bis in ihre Grundfesten erschüttern würde. Wohl
hatte die Einheit der Großmächte die schwere Belastungsprobe, der
sie durch die Liquidation der Balkankriege ausgesetzt war, noch ein-
mal glücklich bestanden; aber dieses mühsam erzielte Einvernehmen
konnte doch nur notdürftig die tiefen Interessengegensätze verhüllen,
die in Wirklichkeit die Mächte in zwei feindliche Lager schieden,
und die mit der unentrinnbaren Notwendigkeit geschichtlicher Tat-
sachen auf einen kriegerischen Zusammenstoß hindrängten. Daß in
den Krisen der letzten Jahre der Weltfriede gewahrt geblieben war,
ist nicht der geflissentlich betonten Friedensliebe der Tripleentente,
nicht der diplomatischen Geschicklichkeit Sir Edward Greys zu ver-
danken, sondern allein der nüchternen Erkenntnis unserer heutigen
Gegner, daß damals die eiserne Rüstung noch nicht völlig fertig
geschmiedet war, mittels derer sie das mächtig aufblühende deutsche
Reich zu überwältigen und zu seiner früheren politischen Ohn-
macht herabzudrücken gedachten. Es ist heute einwandfrei erwiesen,
daß spätestens im Jahre 1917 diese Vernichtungspläne verwirklicht
werden sollten. Frohlockend hatte der „Matin“ bereits im Juli 1914
(S. 671) auf die niederschmetternde Überlegenheit aufmerksam ge-
macht, welche die erzbereite russische Armee bis zu jenem Zeitpunkte
über alle europäischen Heere besitzen werde. Dann werde Rußland
Europäischer Geschichtskalender. LV. 69