Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

1094 MNebersicht über die politische Entwichlung des Jahres 1914. 
In der Pariser Presse fand diese russische Anregung natürlich 
freudigste Billigung, wenn man sich auch nicht die ernsten Schwierig- 
keiten verhehlte, die ein Teil der britischen öffentlichen Meinung 
einem förmlichen Bündnisschlusse entgegensetzen werde. Einen sehr 
charakteristischen Beweis für die damalige Hochstimmung gewisser 
chauvinistischer Kreise enthält der am 16. April gleichzeitig im 
„Temps“ und in den „Times“ erschienene Festartikel des französi- 
schen Akademikers Lavisse, in dem der Hoffnung Raum gegeben 
wurde, ein Bündnis mit England und Rußland werde einmal die 
Lösung „der deutsch-französischen, aber ebenso curopäischen und welt- 
politischen Frage, der elsässischen Frage“ ermöglichen (S. 651). Wohl 
wurde die Mitteilung der „Weschtjerna Wremja“ von der „Peters- 
burger Telegraphenagentur“ am 22. April offiziös als unbegründet 
bezeichnet (S. 818), und die englischen Blätter erklärten ziemlich 
einstimmig, die vorgebrachten Gründe für ein Bündnis mit Frank- 
reich und Rußland seien „voreilig und ebendeshalb zur Unwirk- 
samkeit verurteilt“ (S. 531 f.). Ja, Lavisse bekam von den radi- 
kalen „Daily News“ die Versicherung zu hören, „die bloße An- 
spielung auf ein Bündnis mit Rußland würde einen Sturm hervor- 
rufen, der die Regierung, die einen solchen Irrtum beginge, wegfegen 
würde“ (S. 651). Auch die offiziellen Verlautbarungen nach der 
Abreise des englischen Königspaares stellten jeden Gedanken an eine 
Erweiterung der bestehenden diplomatischen Abmachungen entschieden 
in Abrede und verzeichneten als Ergebnis der eingehenden Be- 
sprechungen zwischen Sir Edward Grey und dem Ministerpräsidenten 
Doumergue nur eine Befestigung und Bekräftigung des vorhandenen 
Einvernehmens „unter dem Gesichtspunkte des Gleichgewichts und 
der Aufrechterhaltung des Friedens“ (S. 655 f.). In Wirklichkeit 
bedeutete jener Königsbesuch einen Markstein in der gegen Deutsch- 
land gerichteten Einkreisungspolitik. Dank der Veröffentlichung der 
„Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ vom 16. Oktober 1914 (S. 400, 
deren wesentlichen Inhalt Th. Schiemann bereits am 14. August 
1914 in der „Kreuzzeitung“ mitteilen konnte (S. 844), sind wir 
heute über den wahren Inhalt jener Verhandlungen vollständig 
unterrichtet. Der Plan eines neuen Dreibundes war zwar an der 
Ablehnung Greys vorerst gescheitert, dagegen war es dem russischen
	        
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