Greßbriiaunitn. (August 14.) 561
Macht stark gewesen, die nicht imstande ist, aus eigenen Kräften eine kriege-
rische Aufgabe zu lösen. Im Jahre 1870,71 blieben wir neutral, und
welche ungeheuren Vorteile hatten wir von der Neutralität! Wir erhielten
uns den Handel mit Deutschland und mit Frankreich. Beide Staaten waren
während der Kriegszeit gut zahlende Abnehmer. Die französische Entwick-
lung der Industrie und des Handels hatte ihren Höhepunkt zur Zeit der
Pariser Weltausstellung im Jahre 1867 erreicht. Damals drohte ein Kon-
kurrenzkampf zwischen Frankreich und England auf Leben und Tod. Das
bewiesen auch die englischen Ausstellungen in demselben Jahre, die nicht
entfernt so gewaltig waren, wie die damaligen französischen Ausstellungen
— ja, der Markt der Welt schien damals Paris zu werden. Das änderte
sich mit 70/71. Frankreichs Kräfte wurden während des Krieges gebunden
und lagen mehrere Jahre darnieder, und in dieser Zeit konnte England
seinen Konkurrenten so weit überflügeln, daß es auf viele Jahre hinaus
die französische Konkurrenz überhaupt nicht mehr zu fürchten brauchte.
Ebenso war es mit Deutschland — nicht nur, daß die deutsche Entwicklung
während des Krieges still lag und so an einen Konkurrenzkampf mit Eng-
land nicht denken konnte, war Deutschland jahrelang auf englische Erzeug-
nisse angewiesen, die es früher zum großen Teil aus Frankreich bezog.
Wir hätten uns also im Falle der Neutralität beide Staaten als Abnehmer
unserer Erzeugnisse erhalten. Der Krieg mit Kontinentalstaaten ist für
England ein ganz unmögliches Ding. Die englische Industrie — sei es
Textil- oder Maschinenindustrie — ist auf den Kontinentalexport ange-
wiesen, kann ohne ihn überhaupt nicht existieren, da England selbst nicht
ein Viertel von den industriellen Erzeugnissen abnehmen kann, die es pro-
duziert.
England hat seine Karte auf den französisch-russischen Sieg gesetzt
— wie aber, wenn Englands Truppen mit den Franzosen gemeinsam ge-
schlagen werden? — wenn die Kunde von Englands Niederlage und
Schwäche hinausdringt in die Kolonien, die fast nichts mehr gemeinsam
haben mit dem Mutterlande? die vielleicht nur auf irgendeine Gelegenheit
warten, um vom Mutterlande abzufallen? — wie, wenn Frankreich nicht
siegt? Ungeheure Werte gehen dann verloren, und der Verlust an Ein-
fluß auf die kontinentale Politik ist nie wieder — auch in Jahrhunderten
nicht wieder einzuholen, denn dann würde Deutschlands Einfluß in Ver-
bindung mit seinem österreichischen Bundesgenossen so ungeheuer wachsen,
daß es sich mit keiner Macht der Erde auf irgenwelche Vorhaltungen über
den Bau seiner Flotte einlassen würde. Deutschlands Industrie ist stark
und wird sich auch durch einen verlorenen Krieg nicht schwächen lassen.
Ein so kräftiges, seines Wertes vollbewußtes Volk wie das deutsche ist
nicht in die Fesseln zu legen, die man ihm schmieden will. Mit beispiel-
losem Opfermut — und wenn der ärmste Tagelöhner seinen letzten Pfennig
aus der Tasche hervorsuchen müßte — wird man, wenn wir Deutschlands
Flotte zerstörten, eine Flotte doppelt und dreifach so groß wieder errichten
so wie im Jahre 1808 Freiherr vom Stein das Volksheer zur Bezwingung
seines Unterdrückers Napoleon aus dem Boden stampfte, wie man sich
damals den letzten Bissen vom Munde abdarbte fürs Vaterland, für die
große Idee der Befreiung, so wird dieses Volk, durch einc Niederlage zur
dußersten Kraftanstrengung aufgerüttelt, nicht eher ruhen und nicht eher
rasten, als bis es in einem Vernichtungskampf gegen England siegen wird.
Wo die nationale Einheit so gewaltig und so unzerbrechlich dasteht, da
bietet die Vollendung auch der wagemutigsten Ideen keine Schwierigkeiten.
Man wird sich bis aufs letzte zum Kampf gegen England einsetzen.
Was erreichen wir nun durch eine deutsche Niederlage! Im gleichen
Europäischer Geschichtskalender. LV. 36