Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Mebersicht über die politische Entwicklung des Jahres 1914. 1149 
machen. Je weniger sich ihre Erwartung verwirklichte, auf den 
Schlachtfeldern rasch eine Entscheidung zu ihren Gunsten herbei- 
zuführen, um so angelegentlicher und rücksichtsloser zeigten sie sich 
bemüht, den Ausfall an militärischer Kraft durch geschickte Aus- 
nützung ihrer politischen Machtmittel wettzumachen. In diesem 
Kampfe um die „Seele der Neutralen“ hat vor allem Eng- 
land seine langgeübte Meisterschaft im politischen Intrigenspiel 
glänzend bewährt. Nicht nur gelang es ihm, durch eine wirksame 
Mischung von Verlockungen und Drohungen eine Reihe zunächst 
abseits stehender Staaten sich gefügig zu machen, sondern dank 
seines Nachrichtenmonopols hat es fast die ganze Kulturwelt in 
den Bannkreis seiner politischen Auffassung gezogen und sich da- 
durch überall die stärksten Sympathien für seine eigene Sache ge- 
sichert. Die Mittelmächte waren auch in dieser Hinsicht in die Ver- 
teidigungsstellung gedrängt. Sie mußten, von einer mehr eifrig 
als wirksam betriebenen Aufklärungsarbeit abgesehen, es der über- 
zeugenden Sprache der Tatsachen, die auch das tollste Lügengerede 
unserer Feinde auf die Dauer nicht zu ersticken vermochte, über- 
lassen, der Wahrheit zu ihrem Rechte zu verhelfen und die Neutralen 
allmählich zu der nüchternen Erkenntnis zu bringen, auf welcher 
Seite der Schutz und die Förderung ihrer Interessen am besten 
gewährleistet war. 
Während aber die kleineren Staaten in den ersten Kriegs-Eintritt der 
monaten sich ängstlich zurückhielten und trotz aller englischen Ver-krer a den 
führungskünste eine offene Parteinahme bis zum Eintritt einer 
entscheidenden Klärung der militärischen Lage verzögerten, konnte 
es für die Türkei, der die immer ungescheuter zutage tretenden 
russischen Wünsche auf den Besitz Konstantinopels und Armeniens 
wohlbekannt waren, und die das heuchlerische Wohlwollen Englands 
längst durchschaut hatte, keinen Augenblick zweifelhaft sein, daß sie 
von einem Siege des Dreiverbandes das Schlimmste zu befürchten 
hatte und allein durch einen engen Anschluß an Deutschland, 
das sich stets als treuer, uneigennütziger Freund erwiesen hatte, 
die Erhaltung und Festigung des nationalen Bestandes erreichen 
konnte. Für die weitsichtigen Leiter der türkischen Politik, die seit 
dem unglücklichen Ausgange des Balkankrieges mit rücksichtsloser
	        
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