Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

1154 Mebersicht über die yolitische Entwicklung des Jahres 1914. 
Militärpartei, die in der Gerichtsverhandlung in Straßburg gesiegt 
habe, und die reichsländische Regierung mußte sich gegen den Vorwurf 
verteidigen, daß sie für die Rechte des elsaß-lothringischen Volkes und 
die Bewahrung verfassungsmäßiger Zustände nicht entschieden genug 
eingetreten sei. Zum Schlusse wurde eine Resolution angenommen, 
in der die Kammer der überzeugung Ausdruck gab, „daß die Zivil- 
verwaltung in Zabern durchaus ihre Pflicht getan, und daß zu 
dem Eingreifen des Militärs jeder tatsächliche Anlaß und jede 
rechtliche Grundlage gefehlt hat“ (S. 25). Diese parteiische Dar- 
stellung stand freilich mit dem wahren Sachverhalt durchaus im 
Widerstreit. Denn die nach und nach bekannt gewordenen Tatsachen 
hatien im Gegenteile für jeden unbefangen Urteilenden den bün- 
digen Beweis erbracht, daß die Zivilbehörden in Zabern in be- 
denklichster Weise versagt hatten und das Ansehen der Armee und 
die Würde des Reiches dadurch aufs empfindlichste geschädigt worden 
waren, so daß das Verhalten des Obersten v. Reuter auf jeden Fall 
in erheblich milderes Licht gerückt erschien. Zu dieser nüchternen 
Auffassung bekannte sich auch die Mehrheit des Reichstags am 
23. Januar (S. 51 ff.). Die allgemein empfundene Notwendigkeit, 
die Befugnisse der bewaffneten Macht genauer zu umgrenzen und 
für das Reich einheitlich zu regeln, fand ihren Niederschlag in 
fünf Anträgen, die der Reichstag am 24. Januar teils annahm, teils 
an eine Sonderkommission verwies (S. 52f ff.), deren Beratungen 
(am 18. und 26. Februar) jedoch völlig ergebnislos verliefen (S. 89, 
110). Zur Beruhigung der öffentlichen Meinung hat es wesent- 
lich beigetragen, daß Kaiser Wilhelm sogleich nach dem Abschlusse 
der Straßburger Gerichtsverhandlung eine Nachprüfung der viel- 
umstrittenen Dienstvorschrift über den Waffengebrauch des Militärs 
angeordnet hatte (S. 260). Am 8. April wurde bekannt gegeben, 
daß die umgearbeitete Vorschrift fertiggestellt sei und die Genehmi- 
gung des Kaisers erhalten habe (S. 195). Dadurch war der Anlaß 
zu einem Konflikte zwischen den Zivil- und Militärbehörden und 
damit die Möglichkeit einer Wiederholung des Zabernfalles beseitigt. 
Die Stellung der elsaß-lothringischen Regierung war durch die Vor- 
gänge in Zabern, denen man eine symptomatische Bedeutung für 
die ungesunden Zustände in den Reichslanden nicht absprechen
	        
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