Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Partikulari- 
stische Be- 
strebungen. 
1156 Nebersicht über die politische Entwicklung des Jahres 1914. 
Die innerpolitische Entwicklung des letzten Jahres im all- 
gemeinen und die prinzipielle Bedeutung des Zabernfalles und 
seiner parlamentarischen Behandlung im besondern gaben den 
Kreisen, die an der unbedingten Staatsautorität und an der un- 
eingeschränkten Kommandogewalt des Kaisers festhielten, Veranlas- 
sung, ihre schweren Befürchtungen wegen der innerpolitischen Zu- 
stände Deutschlands öffentlich zum Ausdruck zu bringen und die 
Regierung vor den großen Gefahren einer fortschreitenden „Demo- 
kratisierung“ der Staatseinrichtungen zu warnen. In dem am 
10. Januar im preußischen Herrenhause behandelten Antrage des 
Grafen Yorck v. Wartenburg, „die Staatsregierung zu ersuchen, im 
Reiche dahin zu wirken, daß die Stellung Preußens, auf die es 
seiner Geschichte und seinem Schwergewichte nach Anspruch hat, nicht 
dadurch beeinträchtigt wird, daß eine Verschiebung zugunsten der 
Einzelstaaten Platz greift“, hat diese „reaktionäre“ Zeitstimmung 
ihren Niederschlag gefunden (S. 9 ff.). In seiner Entgegnung be- 
kannte sich der Reichskanzler mit aller Entschiedenheit zu der An- 
sicht, daß die Besonderheit der preußischen Staatsidee für Deutsch- 
land weder entbehrt noch ersetzt werden könne, daß aber seit Bis- 
marck die unbedingte und rücksichtslose Vertretung des Reichs- 
gedankens die oberste Pflicht Preußens sei. Gleichwohl stimmten 
von 208 Mitgliedern des Herrenhauses 185 für den Antrag. Der 
einseitigen Betonung der Rechte und der Eigenart des Preußentums 
galt auch die Tagung des Preußenbundes am 18. Januar, die in 
den Erörterungen über die rednerische Entgleisung des Generals 
v. Kracht ein sehr unliebsames Nachspiel hatte (S. 40 f.). Diese 
Neubelebung partikularistischer Tendenzen bedcutete, wie der Reichs- 
kanzler vor dem deutschen Landwirtschaftsrate treffend ausgeführt 
hat (S. 70 ff.), nicht nur ein untaugliches Mittel gegen die Aus- 
artung demokratischer Einrichtungen, welche „die Schöpfer des Reichs 
in der ausgesprochenen Absicht geschaffen haben, die partikularistischen 
Neigungen der deutschen Stämme niederzuhalten“, sondern auch 
eine Verkennung und Preisgabe der großen wirtschaftlichen und 
politischen Errungenschaften, die in den letzten Jahrzehnten dank 
des einmütigen Zusammenarbeitens der gesamten Nation erzielt 
worden waren. Als Beweis für die angebliche Bedrohung der
	        
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