Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Nebersicht #ber die politische Eutwichlung des Jahres 1914. 1157 
Selbständigkeit der Bundesstaaten verwertete die Rechte insbesondere 
die Reichssteuergesetzgebung, namentlich die Einführung der Reichs- 
vermögenssteuer, die in das Finanzwesen der Einzelstaaten ver- 
hängnisvoll eingegriffen habe, und gründete darauf bei den Etats- 
beratungen im preußischen Abgeordnetenhause (S. 15 ff., 26a) 
schwere Vorwürfe gegen den verantwortlichen Leiter der Staats- 
regierung. Demgegenüber konnte der Reichskanzler mit vollem 
Rechte darauf hinweisen, daß die Durchführung der Wehrvorlage 
ohne gleichzeitige Einigung über die Deckungsfrage unmöglich ge- 
wesen war, daß aber die ursprüngliche Regierungsvorlage vor allem 
bei den Konservativen nicht die entsprechende Unterstützung gefunden 
habe. so daß zuletzt die verbündeten Regierungen, wollten fie nicht 
die ganze Wehrvorlage scheitern lassen, sich zu einem Kompromiß 
genötigt sahen und die Vermögenszuwachssteuer annehmen mußten, 
so bedenklich sie auch im Interesse der Einzelstaaten erscheinen mochte. 
Die Heeresvermehrung war, dies stellte der Kanzler erneut aufs 
nachdrücklichste fest, eine nationale Notwendigkeit, um die Stärke 
und Unabhängigkeit des Reiches zu verbürgen, und deshalb konnten 
dem einzelnen schwere Opfer nicht erspart werden. 
Es übt heute eine eigentümliche Wirkung aus, wenn der Reichs- 
kanzler in den leidenschaftlichen parlamentarischen Auseinander- 
setzungen jener Tage immer wieder auf den Ernst der politischen 
Lage hinweist, der die Parteigegensätze vor der Sorge um das 
gemeine Wohl zurücktreten lassen müsse. Damals freilich konnte 
sich der Offentlichkeit ein volles Verständnis für diese bedeutsamen 
Kanzlerworte nicht erschließen. War man doch allgemein geneigt, 
nach der glücklichen Lösung der Balkankrise die politische Lage als 
befriedigend und gesichert zu beurteilen, und glaubte vor allem, an- 
gesichts der günstigen Entwicklung der deutsch-englischen Verhand- 
lungen eine allgemeine Entspannung feststellen zu dürfen. Bei den 
Etatsberatungen im Reichstage haben die Parteivertreter wieder- 
holt ziemlich übereinstimmend diese hoffnungsfreudige Auffassung 
zum Ausdruck gebracht. Gleichzeitig wurde aber auch von seiten 
der bürgerlichen Parteien die Unaufschiebbarkeit der großen Wehr- 
vorlage des Vorjahres und ihre Bedeutung für die Erhaltung des 
Weltfriedens voll anerkannt. Besonders erfreulich klangen bei der 
Reichstag.
	        
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