Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

1176 Mebersicht über die politische Eutwichlung des Jahres 1914. 
Vertreter der Radikalen zum Eintritt in das Kabinett zu bewegen, 
an ihrer Haltung gegenüber dem Dreijahrgesetz gescheitert war, 
bildete der greise Akademiker Ribot am 9. Juni ein republika- 
nisches Koalitionsministerium gemäßigter Richtung (S. 661), das 
von den Radikalen in Hinblick auf ihre Wahlerfolge als eine offene 
Herausforderung betrachtet wurde. Ribot stürzte denn auch bei 
seinem ersten Auftritt vor der Kammer am 12. Juli (S. 662 f.), 
ein in der Geschichte der dritten Republik einzig dastehender Vor- 
gang, und machte Viviani Platz, dem jetzt, anscheinend mühelos, 
die Kabinettsbildung gelang (S. 663). Aus dem Berichte des bel- 
gischen Gesandten in Paris vom 9. Juni (S. 1073) läßt sich er- 
sehen, welche geheimen russischen Einflüsse damals für die Lösung 
der schweren Kabinettskrise im Sinne des prinzipienfesten Nationa- 
lismus tätig waren. Das Dreijahrgesetz wurde auch von Viviani 
energisch verteidigt und in seinem vollen Umfange aufrechterhalten; 
doch glaubte er wenigstens für einen späteren Zeitpunkt eine teil- 
weise Erleichterung in Aussicht stellen zu können. Nur die äußerste 
um Jaures gescharte Linke blieb unerschütterlich. Sie war es auch, 
die am 7. Juli in der Kammer den Kredit für die russische Reise 
des Präsidenten ablehnte, mit der Begründung, daß Frankreich 
durch solche Verträge in verhängnisvoller Weise engagiert werde 
(S. 666 f.). In dem beharrlich seine Ueberzeugung von der Möglich- 
keit einer deutsch-französischen Annäherung bekundenden Sozialisten- 
führer, der die Ausrufung des Generalstreiks im Falle der Mobil- 
machung ernstlich ins Auge gefaßt hatte, sah die Kriegspartei ihren. 
gefährlichsten Gegner. Er fiel denn auch am Vorabend der Mobil- 
machung der Kugel eines gedungenen Meuchelmörders zum Opfer, 
nachdem er noch zwei Stunden vorher im Auftrag der sozialistischen 
Partei bei Viviani im Interesse des Weltfriedens interveniert hatte. 
Sobald bei Kriegsausbruch das Stichwort „Das Vaterland 
ist in Gefahr“ gefallen war, vollzog sich auch in Frankreich die 
Vereinigung aller Parteien. Für die Stimmung, mit der Frank- 
reich in den Krieg eintrat, ist es übrigens sehr bezeichnend, daß 
das am 4. August erlassene Kriegsmanifest der Regierung (S. 678 f.) 
es nicht wagen durfte, an die Wiedergewinnung der geraubten 
Provinzen, an den endlich angebrochenen Tag der Revanche zu er-
	        
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